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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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sie mit Lukas Vater telefoniert. Helena besteht darauf, in der Küche zu warten, sie macht sich große Sorgen. Dora hört, dass sie Marc anruft: Er solle gleich vorbeikommen. Dora stellt sich vor, wie Marc protestiert, er schreibe gerade, er könne seine Arbeit nicht einfach so liegen lassen. Eben befinde er sich in einem wunderbaren Schreibfluss, er habe zehn Seiten in zwei Stunden geschrieben. Aber Helena weint bereits und Marc ist sicher schon unterwegs. Kurz vor drei steht er dann tatsächlich in Doras Wohnzimmer und klopft leise an ihre Schlafzimmertür, steckt den Kopf hinein, und als Dora ihn sieht, fängt sie an zu weinen. Helena eilt zu ihr, will sie umarmen und festhalten, aber Dora schreit, sie wolle in Ruhe gelassen werden. Helena und Marc verlassen das Zimmer und setzen sich an den Tisch in der Küche. Dora kann sie durch die Wand sehen: Helena ist ratlos und Marc will nach Hause, weiterschreiben. Er bleibt natürlich und trinkt den Rotwein, den er im Küchenschrank gefunden hat. »Wie kannst du jetzt trinken«, hört Dora Helena sich aufregen, »es ist schlicht und ergreifend nicht der richtige Augenblick, wir sollten einen klaren Kopf bewahren.« Marc erwidert nichts, er nippt wahrscheinlich weiter an dem Wein, nur so kann er hierbleiben und das Ganze ertragen.
    Dora wendet währenddessen nicht einmal eine Sekunde lang den Blick von der Uhr ab. Sie folgt dem großen Zeiger, als wäre er ihr Herzschlag. Fünfzehn Uhr.
    »Hotel Park, guten Tag.« Eine tiefe Männerstimme.
    Dora ist im ersten Augenblick so überrascht, dass sie auflegt. Und ruft gleich noch einmal an.
    »Hotel Park, guten Tag.« Eine tiefe Männerstimme, diesmal leicht fragend.
    »Guten Tag, kann ich bitte Herrn Ribarević sprechen?« Doras Stimme zittert.
    »Am Apparat. Und wer will ihn sprechen?« Jetzt ist die Stimme unverhohlen fragend.
    »Dora Negrini.« So, jetzt ist es so weit. Jetzt ist es raus. Jetzt wird sie alles erfahren. Keine Unsicherheiten mehr. Alles wird sich klären, und sie wird sehen, dass sie sich umsonst Sorgen gemacht hat. Das Schlimmste liegt hinter ihr. Sie muss wieder weinen, diesmal vor Freude und Erleichterung.
    »Dora Negrini? Kennen wir uns?«
    Und schon wieder stürzt sie in ein tiefes Loch, endlos ist ihr freier Fall. Das war es.
    »Hallo, Frau Negrini, sind Sie noch da?« Besorgte Stimme des Mannes, der Lukas Vater ist.
    Dunkel ist es um Dora herum.
    »Hallo! Hören Sie mich?«
    Dora bemüht sich, öffnet den Mund. Nur Stille verlässt ihn.
    »Frau Negrini, geht es Ihnen gut?« Besorgt, aber auch schon ein wenig irritiert.
    »Ich bin es, Dora. Dora. Da war ich noch ganz klein. Damals, in Makarska. Und wir waren immer zusammen, unzertrennlich. Und dann war ich weg. Ich wollte es nicht, aber meine Eltern … Wir sind umgezogen. Ich bin es. Dora.« Das kann nicht sie sein, nein, diese stammelnde, Unsinn redende Person.
    »Dora? Lukas Dora?«
    Und wieder scheint die Sonne, und die Welt steht auf und verbeugt sich. Fabelhafte Leistung. Einmalige Vorstellung. Vorhang zu.
    »Ja.«
    »Lukas kleine Freundin Dora? Das kann ich nicht glauben!«
    Etwas an diesen Worten stimmt nicht, und Dora muss sich am Rande des Abgrunds ganz fest halten. Etwas ist ganz und gar falsch. Ihre Muskeln zittern vor Anstrengung. Wie lange kann sie das noch aushalten?
    »Kann ich Luka sprechen?« Woher kommt diese Stimme?!
    »Nun ja, Luka ist nicht hier. Er ist zu Hause.«
    »Ja. Kann ich Luka sprechen?«
    Schweigen, das nach Unentschlossenheit und Verwirrung riecht.
    »Ich kann Ihnen die Nummer geben …«
    »Ja, ich will Luka sprechen.«
    Er sagt ihr die Telefonnummer und Dora schreibt sie auf.
    »Danke. Auf Wiederhören.«
    Sie legt auf, ohne ihm eine Chance zu geben, sich zu verabschieden. Dann schläft sie ein. Ihr letzter Gedanke ist dem Prinz gewidmet, der sie wach küssen soll. Zur Abwechslung.
    In der Küche wird währenddessen und danach Wein getrunken.
     
    Tage sind vergangen. Dora hat ihr Bett verlassen, und gestern ist sie wieder im Theater bei der Probe gewesen. Frédéric, heute in Rot und Orange, hat sie umarmt, dann aber schnell einen Sprung nach hinten gemacht und gefragt, ob sie tatsächlich ganz gesund sei, es wäre eine Tragödie, tragischer als König Lear selbst, wenn ihm jetzt etwas zustoßen würde. Dora hat schwach gelächelt und ihr Bestes getan, um ihm zu zeigen, dass keine Gefahr besteht, dass irgendjemand vom Ensemble krank werden könnte. Was sie nicht gesagt hat, ist, dass sie überhaupt nicht krank war.

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