Jeden Tag, Jede Stunde
ist so weit. Das ist ihr Leben. So hat sie es immer gewollt. Eine staubige Bühne, ein roter Vorhang und das Publikum. Ihr Publikum. Nichts anderes braucht sie.
Und es werden keine Fragen gestellt. Und oft werden Blicke gemieden.
»Es ist so weit, meine Kleine«, ruft Frédéric gedämpft und lächelt sie an, heute in Giftgrün und Schwarz, sehr elegant, und schon eilt er zu den anderen und muntert sie auf. Schreit aufgeregt herum wie ein Huhn, das ein Ei gelegt hat.
Dora braucht so etwas nicht. Kein Ei und keine Aufmunterung. Sie weiß, was sie kann und wie gut sie ist. Sie wirft noch einen forschenden Blick in den Spiegel und betrachtet einige Minuten lang achtsam ihr Gesicht. Alles in Ordnung. Das ist nicht sie. Das ist Cordelia. Sie ist bereit zu sterben.
Es ist ein großer Erfolg.
Dora ist umgeben von ihrer Familie und Freunden. Alle gratulieren ihr und feiern sie. Sie ist glücklich. Sie ist mit sich selbst und ihrer Leistung zufrieden. Frédéric lobt sie und sagt, die Augen voller Tränen, sie sei die neue vedette der Theaterwelt. Sie ist erst zweiundzwanzig Jahre alt. Sie kann schon einige neidische Blicke entdecken, aber heute stören sie sie nicht. Die ganze Welt gehöre ihr. Sagt Frédéric. Außer … Ach, nichts. Vergessen wir das.
Als Dora tief in der Nacht ihres ersten großen, richtigen Erfolgs am Fenster ihres dunklen Wohnzimmers steht und die Lichter der Stadt, die ihr Zuhause ist, beobachtet, trifft sie unerwartet eine Entscheidung. Sie ist selbst überrascht. Es war ihr nicht klar, dass es etwas zu entscheiden gab, denn alles war schon entschieden. Und dann auf einmal, mit einer Wucht, bei der man nicht standhaft bleiben kann, die einen mit sich reißt wie ein Orkan, versteht sie mit ihrem ganzen Körper und allen ihren Empfindungen und Gedanken und Sinnen und ihrer vollständigen Sehnsucht, dass sie sich nicht vorstellen kann, nie mehr Lukas Körper zu fühlen. Der Schmerz ist physisch unerträglich. Bei lebendigem Leibe begraben zu werden. Der Albtraum ihres Lebens. Also steht sie am Fenster und erkennt, dass sie sich treu bleiben muss, dass sie gar keine andere Wahl hat, als zu kämpfen.
Also trifft sie eine Entscheidung und spürt, wie die laue Aprilluft ihre Lungen füllt. Sie atmet.
18
Es ist das erste Mal nach sechzehn Jahren. Diese wunderschöne Stadt an einer perfekten Bucht. Unter einem hohen Berg, auf dem man ausgiebig wandern kann. Und überall das Meer. Es schimmert silbern in der Morgensonne, wie die Ewigkeit. Wie Gottes Haus. Dora ist überwältigt. Ihre Augen werden feucht und sie versteckt sie hinter einer großen schwarzen Brille.
Eine schöne, junge Frau. Am Empfang. In einem engen dunkelblauen Kleid. Flache weiße Sandalen. Zwei große Koffer. Eine weiße Handtasche. Finger voller Ringe. Langes lockiges Haar. Verspielt. In den Augen. Sie pustet es immer wieder weg. Blau-weiße Ohrringe. Ein schmales Gesicht. Volle Lippen. Eine breite Nase. Große dunkle Augen. Ungeduldige Hände. Eine elegante Armbanduhr.
Dora.
»Dora.«
Und schon zählt Luka: Eins, zwei, drei, vier … Und Dora findet schnell den Weg hinter die Rezeption, und sie lehnt sich gänzlich an seinen Körper, ihren Mund legt sie auf seinen, und sie flüstert ihm sanft zu: »Du bist mein Prinz, schlaf nicht ein, du bist mein Prinz, nur mein, bleib bei mir, sieh mich an, sieh mir in die Augen, ich bin da, alles ist gut, es ist vorbei, alles ist gut, mein Prinz.« Luka fällt auf den Drehstuhl neben sich, als hätte er keine Muskeln. Keinen Willen. Als wäre er eine von den alten, löchrigen Luftmatratzen, die an vielen geheimen Plätzen im Hotel zu finden sind, von ihren Besitzern, abgereisten Gästen, verlassen. Lukas Augen sind geschlossen und sein Atem geht schwer. Es gibt Sachen, auf die man nie vorbereitet sein kann. Er spürt Doras Kopf an seinem Bauch, ihre Arme um seine Taille, aber Sauerstoff ist im Augenblick Mangelware und er sitzt weiterhin unbeweglich da. Er fühlt den Druck ihres Körpers, und es ist gleichzeitig seltsam und wunderbar, und er will sie gleichzeitig dabehalten und von sich stoßen. Er macht ein Auge auf, für mehr reicht seine Kraft nicht, und sieht sie vor ihm auf den Knien, ihr langes Haar auf seinem Schoß, und das Glück ist überwältigend und tödlich gleichzeitig. Er hört sie murmeln, ihre Stimme erreicht ihn zwar nicht, aber es könnte das Wort »Prinz« sein, das ihren Mund verlässt. Er legt die Hand auf ihre Haare.
Dora hält inne und hebt den
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