Jeden Tag, Jede Stunde
Nicht ansteckend krank jedenfalls. Dann hat Frédéric sie nach Luka gefragt, und da wurden ihre Augen groß und feucht, und sie ist weggelaufen, hat sich in der Garderobe versteckt. Man hatte Mühe, sie wieder auf die Bühne zu holen.
Heute ist sie aber früh aufgestanden. Heute ist der Tag. So hat sie es entschieden. Sie sitzt auf dem Sofa neben dem Telefon und atmet tief ein und aus. So wie sie es gelernt und auch Luka beigebracht hat. Ein und aus. Tief und lang. Ihre linke Hand liegt schon auf dem Hörer. Die rechte immer noch auf dem Bauch, um das Atmen zu überwachen. Dann umfasst die linke den Apparat, hebt ihn und legt ihn in Doras Schoß. Die linke bringt den Hörer an Doras Ohr und die rechte wählt die Nummer. Dora atmet ruhig. Aus dem Bauch heraus. Durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Drei Mal tief. Und sie ist ruhig wie das Meer in der Abenddämmerung, nach einem Regenschauer.
Es klingelt. Es ist acht Uhr früh. Drei Mal klingelt es. Dann meldet sich Luka.
»Hallo?« Da ist sie, ihre Stimme. Da ist er, ihr Mann. Dora kann nicht sprechen. Alles ist vergessen. Es gibt nur noch ihn und diese Liebe, die größer ist als die Welt.
»Luka, Dora ist hier.« Sie flüstert.
»Dora.« Seine Stimme wie Eis in der Sonne.
»Luka, ljubavi moja! Komm zu mir.« Sie streichelt die Sprechmuschel mit den Lippen. Ihr ganzer Körper zittert, als würde er Lukas Berührung spüren.
»Dora.« Und dann nichts mehr. Als wäre Eis nicht dazu verdammt, in der Sommersonne zu schmelzen.
»Luka, was ist passiert? Komm zu mir. Es sind schon Wochen vergangen, was machst du noch da? Warum hast du mich nie angerufen? Ich bin fast wahnsinnig geworden, ich konnte nicht einmal ins Theater gehen, bin im Bett geblieben und habe auf dich gewartet, auf deinen Anruf, wo bist du? Was machst du noch da? Komm zu mir. Zu uns. So wie wir es ausgemacht haben. Luka.« Und plötzlich ist sie müde, und eine Art Gleichgültigkeit umhüllt sie, als hätte sie eine Ahnung, was als Nächstes kommt.
»Dora. Es ist vorbei.« Lukas Stimme ist leise und nicht zu erkennen.
»Papou ist gestorben.«
»Das tut mir leid.« Ungeduldig.
»Luka, ljubavi moja, ich vermisse dich. Was sagt Neruda? Komm, nur einen Vers, ich sehne mich so danach.«
»Dora.« Luka stöhnt.
»Atme, Luka, atme.« Sie kann ihn ganz deutlich zählen hören. »Atme, mein Prinz, atme.«
Sie sind Hunderte von Kilometern voneinander entfernt. Ihre Lippen können sich nicht berühren. Ihren Fingern bleiben nur Erinnerungen. Verzweiflung strömt durch das Hunderte von Kilometern lange Kabel.
»Dora. Leb wohl.«
»Nein. Ohne dich? Luka, erinnere dich.«
Schweigen.
»El amor supo entonces que se llamaba amor. / Y cuando levanté mis ojos a tu nombre / tu corazón de pronto dispuso mi camino.«
Ein Geräusch, als ringe jemand um Luft.
»Sonett dreiundsiebzig. Ich habe es nicht vergessen. Ich habe nachgeschaut. Du hast recht. Das sind wir, Luka!«
»Dora. Ich muss gehen. Ruf mich nicht wieder an. Nie wieder.« Pause. »Bitte.«
Und weg ist er.
Nur ein eintöniges Signal aus dem Hörer.
Und weg ist er.
Weg ist das Leben. Das vergangene und das zukünftige. Kein barfüßiges Herumlaufen. Keine geschenkten Eiskugeln. Es ist zu spät. Nichts kann mehr gerettet werden. Und niemand. Ihre Augen, Hunderte Kilometer voneinander entfernt, starren still und stundenlang auf nichts, bis sie anfangen, ein wenig zu schmerzen. Trotzdem bewegen sie sie nicht. Sie wollen nicht so tun als ob. Als hätten sie keine Angst, als wären sie nicht allein. Verlassen, zerstört. Völlig. Alles. Nie wieder. Kein geheimes Zuhause. Kein gemeinsames Zuhause, wer kann das ertragen. Nichts mehr ist wahr. Ab heute wird alles vergessen. Muss vergessen werden. Als hätte es das alles nie gegeben. Nur Erinnerungen, die nicht willkommen sind. Die wehtun. Vorbei. Alles. Kein Luka mehr. Und Dora. Keine Dora mehr. Und die ganze Welt. Ohne Vorhang. Ohne Verbeugung. Kein Warten mehr. Keine Hoffnung. Tot. Für immer und ewig. Tottottottottottottottottottottottot.
Wie Papou, der vor zwei Tagen gestorben ist. Alt und glücklich. Der alles hatte und auf nichts verzichten musste. Dora wäre gern Papou. Luka auch. Tot. Für immer und ewig.
17
Die Premiere. Dora macht Gesichtsübungen. Sie steht am Fenster und lockert die Kiefer. Sie gibt Töne von sich. Keiner stört sie. Alle sind mit sich selbst beschäftigt. Lauter Profis sind das. Genauso wie Dora. Die duftige Aprilluft legt sich zart auf ihr Gesicht. Es
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