Jeden Tag, Jede Stunde
Sie sammelt rasch ihre Kleidungsstücke und verlässt das Schlafzimmer. Aufs Bad verzichtet sie. Sie zieht sich im Flur an. Schnell, schnell. Als ihre Hand an die Türklinke fasst, hört sie Philippes Stimme: »Dora, Dora, wo bist du?«, eine Stimme, die näher kommt. Also ergreift sie die Flucht. Noch einmal Glück gehabt!
Aber heute Abend wird sie ihm gegenübertreten müssen, auf der Bühne. Macht nichts! Sie wird sich einfach hinter Maggie verstecken.
Luka sitzt in seiner Stammkneipe und trinkt Wein. Sein Kopf hängt über dem Glas, als würde er darin nach Gold suchen. Der Raum ist voll. Menschen, Musik, Gelächter, Rufe, Klirren von Flaschen und Gläsern.
»Luka, da bist du ja!« Vinko schreit durch den Raum, um gehört zu werden. Luka hebt den Kopf und sieht ihn ein wenig verwirrt an, und Vinko weiß sofort, dass sein bester Freund schon zu viel getrunken hat. »Hier, das ist Sanja, Biserkas Freundin aus Dubrovnik. Sag: Hallo, Sanja.«
»Hallo, Sanja!«, spricht Luka brav nach und betrachtet die junge Frau zwischen Vinko und Biserka. Sanja ist klein, aber ihr Haar ist wunderbar schwarz und ihre Augen sind dunkel, und Luka kann sich in seinem Zustand alles Mögliche vorstellen. Was er auch tut. Das Bild ist nicht klar, was die Sache viel leichter macht. Er kann sehen, was er sehen will. Was er auch tut. Sanja lächelt nicht ganz brav, eher so, als hätte sie unanständige Gedanken. Sie setzt sich neben Luka und nimmt einen Schluck aus seinem Glas.
Vinko und Biserka sehen sich unschlüssig an. Vinko schaut sich um. Keine Klara in der Nähe. Das hätte ihn auch gewundert. Als sein Blick wieder auf Luka und Sanja fällt, ist ihre linke Hand auf seinem Oberschenkel und seine rechte in ihrem Nacken. Ihre Nasen sind sich so nahe, dass nicht einmal ein Finger dazwischenpassen würde. Vinko sieht seine Freundin, die lieber gestern als morgen heiraten würde, fragend an. Sie antwortet mit einem hilflosen Achselzucken. Und genauso lange haben Luka und Sanja gebraucht, um ihre Lippen aneinanderzupressen.
Es ist alles egal, denkt Luka in seinem unklaren Kopf. Ich kann einfach da weitermachen, wo ich aufgehört habe, bevor das Leben mich besucht hat. Wen kümmert es, es ist alles egal … Und schon sind sie im Freien und steuern Richtung Strand. Es ist alles egal.
Und nicht einmal einen Monat nach ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag weiß Dora, dass sie schwanger ist.
32
Zwei Wochen vor Weihnachten wacht Dora mitten in der Nacht durch starke Bauchschmerzen auf. Als sie dann im Bad ist, fließt Blut ihre Beine hinunter, in dünnen Streifen, wie Lamellen. Es ist vorbei. Sie weint nicht. Es war ja sowieso eine verrückte Idee. Sie fährt alleine ins Krankenhaus. Es ist vorbei. Es gibt niemanden, den sie benachrichtigen möchte.
Als sie nach mehreren Stunden aus der Narkose wieder zu sich kommt, ist alles verschwommen. Die Gedanken und Gefühle, Namen und Gesichter. Ihre Augen sind trocken, aber ihre Wangen nass. Es ist vorbei und alles kann passieren. Ein tobendes Meer erfüllt die Leere ihres Körpers und ihrer Seele, salziger Schaum umhüllt sie wie eine zweite Haut.
Und was jetzt?
Dora ruft Jeanne an. Sie will das Krankenhaus verlassen, obwohl der Arzt ihr geraten hat, mindestens noch eine Nacht dazubleiben. Sie kann aber nicht. Heute Abend hat sie Probe, und sie muss unbedingt dabei sein. Denn sie hat einen Plan.
Bevor der Arzt ihre Entlassungspapiere unterschreibt, versucht er, sie noch einmal zu trösten, sie sei noch jung, das sei nichts Ungewöhnliches, vor allem da es ihre erste Schwangerschaft sei. Er sagt noch viele andere nette Dinge, aber Dora hört nicht genau hin. Sie hat einen Plan. Sie nickt freundlich und lächelt wie ein Profi, und dann nimmt Jeanne sie mit und fährt sie nach Hause. Sie hilft Dora ins Bett, setzt sich neben sie und streichelt ihr wirres, zerzaustes Haar. Doras dunkle Augen starren sie besorgniserregend an. Du solltest heute besser zu Hause bleiben, meint Jeanne, die Probe kann auch morgen stattfinden. Dora bewegt den Kopf, aber es ist unmöglich zu sagen, ob es ein Nicken oder ein Schütteln ist. Dora ist sehr ruhig. Als ginge es nicht um sie. Als hätte sie einen Plan. Und sieh einer an, den hat sie auch!
Bevor sie einschläft, flüstert sie noch, glücklich und entspannt: »Ich werde Luka besuchen.« Und weg ist sie. Zu Besuch bei ihren Träumen.
33
Es ist das erste Mal seit fast sechs Jahren. Diese wunderschöne Stadt an einer perfekten Bucht. Unter einem
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