Jeden Tag, Jede Stunde
nicht mehr gibt. Nicht einmal sterben will sie. Sie hat keine Wünsche und keinen Willen. Warten ist alles, was sie jetzt tun kann. Warten, dass das Leben sie wiederfindet. Das könnte allerdings eine Weile dauern, denn sie hat sich gut versteckt.
Luka sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer und starrt ins Leere. Sein Leben ist leer. Die Welt ist leer. Und sinnlos. Und grausam. Überflüssig. Unbrauchbar. Lukas Kopf ist leer. Keine Gedanken. Sie haben ihn alle verlassen vor drei Tagen. Ein paar Bilder, aber keine Grübeleien. Keine Betrachtungen oder Reflexionen. Gefühle darf er nicht zulassen. Es ist ein sehr bewusster Akt. Nichts fühlen. Unter keinen Umständen. Verboten. Rote Gefahrlichter blinken ununterbrochen. Luka weiß nicht einmal, ob er atmet. Wahrscheinlich schon. Er schaut sich seinen Brustkorb an. Ja, er bewegt sich, also: Es wird geatmet. Er spürt es aber nicht. Gezählt hat er nicht. Daran hätte er sich sicher erinnert. Es ist aber auch nicht nötig, in Ohnmacht zu fallen. Luka ist sowieso schon abwesend. In seinem Leben, das es nicht mehr gibt. Nicht einmal sterben will er. Er hat keine Wünsche und keinen Willen. Warten ist alles, was er jetzt tun kann. Nicht warten, dass das Leben ihn wiederfindet. Nein, das wird es nicht mehr geben. Weg ist es. Abgereist. Vor drei Tagen weggeflogen. Dahin ist das Leben. Er soll das Leben aufgeben und Ruhe finden. Das war der Deal. Es könnte aber eine Weile dauern, bis er die Ruhe tatsächlich findet. Sie hat sich gut versteckt. Oder Luka.
»Komm ins Bett, Luka!«
Also doch nicht so gut versteckt!
Luka antwortet natürlich nicht. Bald steht Klara neben ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter.
»Komm ins Bett, es ist spät.«
Sie weiß es. Jeder weiß es schon.
Wohin soll er gehen? Diese verdammte Stadt! Alle Ecken sind voller Gespenster.
Luka steht langsam auf, ohne seine Frau anzusehen. Er zieht die Schuhe an, die neben der Couch stehen, er nimmt seinen Geldbeutel, der auf dem Tisch liegt, er verlässt das Haus, wortlos. Klara ruft nach ihm. Er macht die Tür hinter sich zu, leise, vorsichtig sogar, und er läuft und läuft, anscheinend ziellos, immer weiter. Plötzlich schaukelt vor ihm das Boot. Von wegen ziellos. So kann man sich täuschen. Er springt an Bord. Schließt die Kabine auf und legt sich auf die Liege. Darunter, in einer Schublade, ist ein T-Shirt, das weder ihm noch seinem Vater noch Ana gehört. Es ist ein weißes T-Shirt mit einem rot-blauen Symbol. Etwas Chinesisches soll es sein. Es ist ein T-Shirt, das niemandem gehört, der jetzt in Makarska ist. Es ist einfach da, und das tut gut, auch wenn Luka es nicht herausholt. Das ertrüge er nicht. Das Leben zu riechen, das in ihm steckt, das könnte er nicht. Womöglich Bilder sehen, nein, das darf er nicht. Aber in der Nähe des Lebens sein, das muss er. Sich zu bestrafen, darin ist Luka ein echter Meister. Als sein Blick dann herumschweift und er seine Malkiste sieht, stößt er einen kurzen Schrei aus. Er greift nach dem uralten Kasten und will ihn ins Meer schmeißen, aber er zerfällt in seinen Händen, und Pinsel und Farben und Tücher und Tuben und Gläser landen auf dem Boden. Blind vor Wut tobt er herum und sammelt jedes einzelne Teil auf und wirft sie alle aus der Kabine. Einige erreichen das ruhige, nächtliche Wasser, die anderen landen klappernd auf dem Deck. Vorbei das Leben. Es wird nicht mehr gemalt. Er verdient es nicht. Malen ist ein Geschenk des Lebens. Und er ist tot.
Verschwitzt und zitternd setzt Luka sich auf die Treppe der Kabine und weint.
31
Während die ganze Welt die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten feiert oder bestaunt oder sich davor fürchtet, sitzen Dora und Jeanne im Restaurant Le Jules Verne im zweiten Stock des Eiffelturms, einem der teuersten Plätze in Paris, und stoßen auf Doras achtundzwanzigsten Geburtstag an. Man schreibt das Jahr 1990.
»Auf dich, ma chérie! Und auf noch viele weitere erfolgreiche Jahre wie dieses!«
Jeannes Wangen sind schon gerötet, sie verträgt Alkohol nicht besonders gut, ein Glas Wein, und schon muss sie sich anstrengen, um sich an ihren eigenen Namen zu erinnern. Deswegen passt Dora gut auf sie auf, ein Glas, und das war es. Und zwar nur, weil es Doras Geburtstag ist, und weil sie in diesem Jahr zwei Preise gewonnen hat, und weil sie letzte Woche mit den Proben zu ihrem neuen Stück begonnen hat. Eine Traumrolle für sie, eine, die schon immer ganz oben auf ihrer Liste stand: Maggie in Tennessee
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