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Jeder Augenblick ist ewig: Die Gedichte (German Edition)

Jeder Augenblick ist ewig: Die Gedichte (German Edition)

Titel: Jeder Augenblick ist ewig: Die Gedichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Konstantin Wecker
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Mitleid,
    aber nie wirklich mit Massen und Völkern.
    Ich bleib ans Einzelne gekettet,
    nur so kann ich mich an alle gebunden fühlen,
    Einzelschicksale schnüren mir die Kehle ab,
    lassen mich hoffen,
    die Geschichte tangiert mich nur hirnlich,
    da geht mir nichts an die Nieren.
    Die Politik war schon immer wölfisch,
    wenn’s kälter wird, kommen sie in die Dörfer
    und zerfleischen die Schwachen,
    aber auch daran leide ich nur peripher,
    zu allgemein,
    zu gemein zu allen.
    Aber wenn mein Freund Sebastian das Handtuch wirft,
    nur weil er sich bis zum Schluss
    beharrlich geweigert hat,
    jeden Morgen nach dem Aufstehen
    über Nicaragua zu diskutieren,
    jeden Morgen
    nüchtern
    über Nicaragua,
    sondern schon mal ein
    »Guten Morgen, heute ist aber ein herrlicher Tag,
    wollen wir nicht mal schwimmen gehen?«
    in die Runde warf,
    mein Freund Sebastian,
    der es schon mal fertigbrachte,
    ab und zu dieses total vergiftete
    feingemahlene
    wertstofffreie
    durch und durch ungesunde
    Graubrot zu essen,
    aber dann trotzdem am Echo zerbrach,
    an diesem germanischen Zwang seiner Mitmenschen,
    immer das vom andern zu fordern,
    was man selbst noch nicht verinnerlicht hat,
    Sebastian,
    wenn der sich ins Auto setzt
    und mit hundertzwanzig über die Böschung schießt,
    vielleicht um ein letztes Mal noch davonzufliegen,
    dann ist das nicht getrennt von der Welt und
    der großen Politik
    das ist die große Politik,
    da ist mir das Herz so voll,
    dass ich reden muss.
    Was sollte ich da noch über die Geißlers und Genschers bramarbasieren,
    lasst uns doch lieber über die Lebendigen reden!
    Über uns, zum Beispiel,
    wo’s noch Sinn hat,
    wo’s noch Hoffnung gibt.
    Ich kann’s nicht mehr
    mit diesen schmalen Lippen,
    all diesen Messiassen,
    mit ihrem heiligen Ernst,
    teutonische Tragöden
    mit schleppenden Schritten
    und eingezogenen flachen Ärschen.
    Die Welt ist aus einem Gelächter Gottes entstanden,
    heißt es,
    ein Spaß, meine Damen und Herren,
    ein kosmisch komischer Irrtum!
    Spielend sollten wir uns zurückerobern,
    am Ende setzen sich unsere so heißgeliebten chemischen Reaktionen
    in anderen und anderem fort,
    und übrig bleibt die Idee,
    das heißt,
    wenn wir jemals eine gehabt haben.
    Sizilianische Psalmen
     
    I
     
    Diesen Verfall zu genießen.
    Diese bröckelnden Hotels
    mit ihren großschnäuzigen Eingangshallen,
    wo man stündlich auf den Ansturm
    der Straßenjungen wartet,
    um mit einer letzten großartigen Gebärde
    lächelnd erschlagen zu werden:
    Alles ist Endzeit
    immer schon,
    immer war jede Zeit Endzeit
    und immer schon
    musste man sich
    – wenn’s geht   –
    besoffen von Flieder oder Jasmin
    ans Weiterleben erinnern.
     
    Schön:
    Im Verfall zu versinken und,
    wenn auch nur kurz,
    mit der Geste der Herren
    sein zerfressenes Ich
    zu polieren,
    von Mitleid verschont
    und von allen Gedanken
    an Recht und Gerechtes
    dümmlich und stolz und erhaben
    unterzugehen.
    Wie grässlich,
    wie unsozial!,
    werden Sie brüllen.
    Er hat kein Herz   –
    und wirklich,
    es wird auf mir lasten wie Stein,
    aber für einen Augenblick
    will ich der Grausamkeit
    Teil sein.
    Dann dürfen Sie mich zerfleischen.
     
    II
     
    Keiner kann mir erzählen,
    dass Lava kein Tier sei,
    und wie mir der Wirt
    zwischen der Pizza und einer Cassata versicherte,
    kein »animale di un sogno terrible«,
    und dass da im Inneren der Erde nicht wirklich die
    Hölle brodelt
    (uns allen nur zu gut bekannt:
    haben wir doch immer dieselben Bilder
    in unseren verschiedenen Träumen).
    Alle diese in heißem Schleim verfinsterten
    verendenden Wesen,
    kann man’s ihnen verdenken,
    dass sie ans Licht wollen,
    sich über Bäume und Wiesen und selbst Flüsse
    und Meere verströmen,
    um teilzuhaben am helleren Leben?
    Ich würde wohl scheitern an dieser gigantischen Fotze,
    die ohne zu ruhen Feuer gebärt,
    auf dass der Kreislauf nie ende
    und die Hölle nie endlos sei,
    auch wenn er mich reizen würde,
    wohlgemerkt in sicherer Entfernung
    und behütet von zwei erfahrenen Führern,
    die mir versichern,
    dass der Untergang der Welt
    sich noch um ein paar Tage verschiebt,
    gegen ein angemessenes Trinkgeld, versteht sich,
    aber so nah bin ich den Tiefen der eigenen Seele
    noch nie gewesen.
    Als ob dieser Feuerteig
    nur darauf wartete,
    aus mir gespien zu werden,
    um sich noch im Erkalten
    mit der Welt zu verbünden.
     
    III
     
    Schübe von Duft
    und ein gefährliches, nie endendes Blau.
    Mädchen schlendern vorbei,
    dralle, wiehernde Mädchen
    mit Schenkeln

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