Jeder kann mal Robin sein
Fürsorgerin trat auf die Schwelle. Mit einem Blick hatte sie erkannt, was hier vorging. Sie nahm den brüllenden Jungen bei der Hand. Der versuchte sich loszureißen und stieß mit den Füßen nach der Frau. Sie wich geschickt aus. »Hör mal, ich bin doch kein Fußball! Wenn du spielen willst, ich hab einen in meinem Zimmer. Geh nur rein. Er liegt in der Spielecke. Mach die
Tür zum Hinterhof auf, dann kannst du draußen kicken.«
Der Junge hörte sofort auf zu brüllen. Er starrte die Fürsorgerin an, wischte sich mit der Hand die Nase ab und verschwand wortlos im Sprechzimmer.
»Na, dann kommen Sie auch gleich, Frau Reiber!« Die Fürsorgerin ging voraus.
Die alte Frau erhob sich. »Da haben Sie’s mal erlebt, Frau Beck«, rief sie hinter der Fürsorgerin her. »Ganz geschwollen ist mein Zeigefinger. Und Sie sind viel zu gutmütig, viel zu gutmütig.«
Kaum hatten sie die Tür zum Sprechzimmer zugemacht, steckten die Frauen die Köpfe zusammen und fingen an zu tuscheln.
Oma warf Tine einen Blick zu. »Hol mir mal eine von den Illustrierten, Tine.«
Als Oma und Tine endlich an die Reihe kamen, war es draußen schon dunkel, und auf Frau Becks Schreibtisch brannte eine Kerze. Nachdem Oma Tine und sich vorgestellt hatte, lud Frau Beck beide ein, sich zu setzen, und fragte geradeheraus, wo der Schuh drücke.
»Es handelt sich um ein Mädchen«, begann Oma.
Frau Beck sah Tine fragend an.
»Nein, nein«, wehrte Oma ab. »Um meine Enkelin geht es nicht.«
»Sondern?«
Tine rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Es ist wegen Lilly«, sagte sie. Dann wußte sie nicht weiter.
»Also wegen Lilly.« Frau Beck wickelte ihre Halskette um den Zeigefinger. »Hast du Geschwister?«
»Nur einen Bruder, Max.«
»Und wer ist Lilly?«
»Das Mädchen von nebenan.«
»Also das Mädchen von nebenan. Jetzt kommen wir allmählich auf den Punkt.« Frau Beck wandte sich wieder an Oma. »Was ist mit dem Mädchen von nebenan?«
Oma hob die Schultern. »Das ist es ja gerade. Wir wissen es nicht. Ich schon gar nicht. Ich wohne nicht hier, bin nur zu Besuch. Deshalb hab ich ja meine Enkelin mitgebracht. Tine hat das Kind wenigstens zu Gesicht gekriegt. Ich persönlich habe es nur jämmerlich weinen hören.«
»Es handelt sich also um Ihre Nachbarn? Erzählen Sie doch mal.«
Abwechselnd berichteten Tine und Oma. Frau Beck hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen.
»Natürlich ist es richtig, daß Sie gekommen sind«, sagte sie dann. »Nur bin ich nicht sicher, ob das, was Sie mir berichtet haben, ausreicht, um sich einzuschalten.«
»Na, hören Sie mal!« Oma fuhr hoch. »Ein Kind wird nachts vor die Tür gesetzt. Noch dazu in dieser kalten Jahreszeit.«
»Sie hätten Lilly mal sehen sollen, wie die gezittert hat«, fügte Tine hinzu.
»Das glaub ich dir ja! Trotzdem, ehe wir eingreifen können, brauchen wir schon eine echte Handhabe.«
»Handhabe, Handhabe.« Oma schüttelte unwillig den Kopf. »Muß denn ein Kind erst grün und blau geschlagen werden, ehe man eingreift?«
Frau Beck hob die Hand. »Bitte, Frau Teichmann, regen Sie sich nicht so auf!«
»Es ist aber zum Aufregen«, erwiderte Oma. »Ich komm von einer winzigen Hallig. Wissen Sie, was ich in einem solchen Fall tun würde, wenn ich bei uns zu Hause wäre? Ich würde die anderen Frauen zusammentrommeln, mit ihnen zu der Mutter gehen und sagen: Hör mal, Lene oder Stine oder wer auch immer, was unterstehst du dich, so mit deinem Kind umzugehen? Wenn das noch mal passiert, kannst du bei der nächsten Sturmflut Zusehen, wie du deine Kühe allein in den Stall treibst. Wir helfen dir gewiß nicht.«
Frau Beck war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. »Ich verstehe ja Ihre Aufregung, Frau Teichmann, aber wir hier in der Großstadt haben keine Kühe zum Eintreiben, wir leben in ganz anderen Verhältnissen. Enge Wohnungen, oft keine Arbeit, das macht die Menschen gereizt. Und an wem wird’s ausgelassen? Leider nur allzu oft an den Schwachen, den Kindern.«
»Aber die nebenan haben ’ne schöne Wohnung, genauso eine wie wir«, wandte Tine ein.
»Das mag ja sein«, fuhr Frau Beck fort. »Es gibt aber noch viele andere Gründe. Was meinst du, was manche Leute zu mir sagen, wenn ich ihnen zurede, ihre Kinder doch nicht zu schlagen. >Mein Vater hat mich als großes Mädchen noch geprügelt, und es hat mir nicht geschadete Und wer sagt uns, ob das Kind nicht von sich aus vor die Tür gelaufen ist? Vielleicht aus Trotz?« Sie besann sich einen Augenblick,
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