Jeder stirbt für sich allein
wieder aufgehoben wird, daß er zurück zu ihr ins Bett darf. Ganz von ihrer mütterlichen Wärme umschlos-sen, schläft er bald ein, dieses Mal ohne weiteres Weinen.
Sie aber liegt noch lange wach. Eigentlich liegt sie die ganze Nacht wach. Sie hört auf sein Atmen, es ist schön, wieder einen Mann bei sich atmen zu hören, ihn so nahe im Bett zu haben. Sie war so lange sehr allein. Nun hat sie wieder jemand, für den sie sorgen kann. Ihr Leben ist nicht mehr ohne allen Inhalt. O ja, er wird ihr vielleicht mehr
Sorgen machen als gut ist. Aber solche Sorgen, Sorgen um einen Menschen, den man liebhat, das sind gute Sorgen.
Frau Hete beschließt, stark für zwei zu sein. Frau Hete beschließt, ihn vor allen von der Gestapo drohenden Gefahren zu behüten. Frau Hete beschließt, ihn zu erziehen und aus ihm einen wahrhaftigen Menschen zu machen.
Frau Hete beschließt, das Hänschen, ach nein, nun heißt er ja Enno, Frau Hete beschließt, den Enno von dieser andern Frau, der Nazistin, freizukämpfen. Frau Hete beschließt, in dieses Leben da, das nun bei ihr liegt, Ordnung und Sauberkeit zu bringen.
Und Frau Hete hat keine Ahnung, daß dieser schwache Mann an ihrer Seite stark genug sein wird, Unordnung, Leid, Selbstvorwürfe, Tränen, Gefahr in ihr Leben zu bringen. Frau Hete hat keine Ahnung, daß all ihre Stärke zu nichts wurde im gleichen Augenblick, als sie beschloß, diesen Enno Kluge bei sich zu behalten und ihn gegen die ganze Welt zu verteidigen. Frau Hete hat keine Ahnung, daß sie sich selbst mit dem ganzen kleinen Reich, das sie sich aufbaute, in höchste Gefahr gebracht hat.
Angst und Furcht
Seit jener Nacht sind zwei Wochen vergangen. Frau Hete und Enno Kluge haben in dem engen Beieinanderleben eines das andere besser kennengelernt. Es war ja nun so, daß der Mann wegen der Furcht vor der Gestapo nicht aus dem Hause durfte. Sie lebten wie auf einer Insel, nur sie zwei. Sie konnten sich nicht aus dem Wege gehen, sich bei andern Menschen ein wenig frischen Wind um die Nase wehen lassen. Sie waren ganz aufeinander angewiesen.
In den ersten Tagen hatte sie es dem Enno nicht einmal erlaubt, ihr im Laden zu helfen, in diesen ersten Tagen, da sie noch nicht ganz sicher war, ob nicht doch ein Agent der Gestapo ums Haus schlich. Sie hatte ihm gesagt, daß er ganz still in der Stube bleiben müsse. Von niemandem dürfe er sich sehen lassen. Ein wenig überrascht war sie, mit welcher Gelassenheit er diese Eröffnung aufnahm; ihr wäre es schrecklich gewesen, zu solchem untätigen Sitzen in der engen Stube verurteilt zu sein. Aber er hatte nur gesagt: «Nun gut, da werde ich mich ein bißchen pflegen!»
«Und was wirst du tun, Enno?» hatte sie gefragt. «So ein
Tag ist lang, und ich kann mich nicht viel um dich kümmern, und Grübeln trägt nichts ein.»
«Tun?» hatte er ganz erstaunt gefragt. «Wieso tun?
Ach, du meinst arbeiten?» Er hatte es schon auf der Zunge, daß er seiner Ansicht nach genug gearbeitet hatte für eine lange Zeit, aber er war noch sehr vorsichtig bei ihr und sagte darum: «Natürlich würde ich gerne was arbeiten. Aber was kann ich denn hier im Zimmer arbeiten? Ja, wenn da 'ne Drehbank stünde!» Und er lachte.
«Aber ich weiß eine Arbeit für dich! Sieh mal her, Enno!»
Sie trug einen großen Karton herein, ganz gefüllt mit allen möglichen Sämereien. Nun stellte sie ein Brettchen vor ihn hin, eines jener hölzernen Zahlbretter mit Rand, wie sie auf vielen Ladentischen stehen. Und sie nahm einen Federhalter zur Hand, in dem die Feder verkehrt herum steckte. Diesen Halter wie eine Schaufel benutzend, fing sie an, eine Handvoll Sämereien, die sie auf das Zahlbrett geschüttet hatte, aufzuteilen in die verschiedenen Sorten. Rasch und geschickt ging die Feder hin und her, teilte, schob in eine Ecke, sonderte wieder, und dabei er-klärte sie: «Das sind alles Futterreste, aus den Ecken zusammengefegt, aus zerplatzten Tüten, das habe ich alles gesammelt, seit Jahren. Jetzt da das Futter so knapp ist, kommt es mir zugute. Ich sortiere es ...» «Aber warum sortierst du es? Das ist ja eine Riesenarbeit! Gib's den Vögeln doch so zu fressen, die sortieren es sich schon selbst!»
«Und veraasen dabei drei Viertel des Futters! Oder fressen Futter, das ihnen nicht bekommt, und gehen mir ein!
Nein, die kleine Arbeit muß man sich schon machen. Ich hab's meist am Abend getan und am Sonntag, immer wenn ich ein bißchen Zeit hatte. An einem Sonntag habe ich einmal fast fünf Pfund
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