Jeder stirbt für sich allein
gegessen, ein wenig geplaudert, immer ängstlich das Hauptthema vermeidend, und plötzlich hatte diese zerfließende, verblühte Frau den Kopf erhoben und gefragt: «Nun, Hänschen? Was ist es? Was ist dir geschehen?»
Kaum hatte sie diese Worte in einem ganz mütterlich besorgten Ton gesprochen, da fingen bei Enno die Tränen an zu fließen; erst langsam, dann immer reichlicher strömten sie über sein mageres, farbloses Gesicht, dessen
Nase dabei stets spitzer zu werden schien.
Er stöhnte: «Ach, Hete, ich kann nicht mehr! Es ist zu schlimm! Die Gestapo hat mich vorgehabt ...»
Und er verbarg, laut aufschluchzend, den Kopf an ihrem großen, mütterlichen Busen.
Bei diesen Worten richtete Frau Hete Häberle den Kopf auf, in ihre Augen kam ein harter Glanz, ihr Nacken steif-te sich, und sie fragte fast hastig: «Was haben sie denn von dir gewollt?»
Der kleine Enno Kluge hatte es - in nachtwandlerischer Sicherheit - mit seinen Worten so gut, wie es nur möglich war, getroffen. Mit all seinen andern Geschichten, mit denen er sich an ihr Mitleid oder an ihre Liebe hätte wenden können, wäre es ihm nicht so gut ergangen wie mit diesem Wort Gestapo. Denn Witwe Hete Häberle haßte Unordnung, und nie hätte sie einen liederlichen Herumtreiber und Zeittotschläger in ihr Haus und in ihre mütterlichen Arme genommen. Aber das eine Wort Gestapo öffnete ihm alle Pforten ihres mütterlichen Herzens, ein von der Gestapo Verfolgter war von vornherein ihres Mitleids und ihrer Hilfe sicher.
Denn ihren ersten Mann, einen kleinen kommunisti-schen Funktionär, hatte die Gestapo schon im Jahre 1934
in ein KZ abgeholt, und nie wieder hatte sie von ihrem
Mann etwas gesehen und gehört, außer einem Paket, das ein paar zerrissene und verschmutzte Sachen von ihm enthielt. Obenauf hatte der Totenschein gelegen, ausgestellt vom Standesamt II, Oranienburg, Todesursache: Lungenentzündung. Aber sie hatte später von andern Häftlingen, die entlassen worden waren, gehört, was sie in Oranienburg und in dem nahegelegenen KZ Sachsenhausen unter Lungenentzündung verstanden.
Und nun hatte sie wieder einen Mann in ihren Armen, einen Mann, für den sie bisher seines schüchternen, anschmiegenden, liebebedürftigen Wesens halber schon Sympathie empfunden, und wieder war er von der Gestapo verfolgt.
«Ruhig, Hänschen!» sagte sie tröstend. «Erzähle mir nur alles. Wenn einer von der Gestapo verfolgt wird, der kann von mir alles haben!»
Diese Worte waren Balsam in seinen Ohren, und er hät-te ja nicht der mit Frauen erfahrene Enno Kluge sein müssen, wenn er nicht seine Gelegenheit benutzt hätte. Was er da unter vielem Schluchzen und Tränen vorbrachte, war nun freilich ein sonderliches Gemisch von Wahrheit und Lüge: er brachte es doch sogar fertig, die Mißhandlungen durch den SS-Mann Persicke in seine neuesten Abenteuer einzuschmuggeln.
Aber was diese Erzählung an Unwahrscheinlichem haben mochte, das verdeckte für Hete Häberle der Haß auf die Gestapo. Und schon begann ihre Liebe einen strahlen-den Glanz um den Nichtsnutz an ihrer Brust zu weben, sie sagte: «Du hast also das Protokoll unterschrieben und dadurch den Täter gedeckt, Hänschen. Das war sehr mutig von dir, ich bewundere dich. Von zehn Männern hätte das kaum einer gewagt. Aber, das weißt du doch, wenn sie dich kriegen, so bekommst du es schlimm, denn daß sie dich mit diesem Protokoll für immer in der Falle haben, ist doch ganz klar.»
Er sagte, schon halb getröstet: «Oh, wenn du nur zu mir hältst, werden die mich nie kriegen!»
Aber sie schüttelte leise und bedenklich den Kopf. «Ich verstehe nicht, warum sie dich überhaupt wieder losgelassen haben.» Plötzlich fiel es ihr schrecklich ein: «O Gott, wenn sie dir nachspioniert haben, wenn sie nur wissen wollten, wohin du gehst?»
Er schüttelte den Kopf. «Glaube ich nicht, Hete. Ich war erst bei - ich war erst auf einer anderen Stelle, um meine Sachen zu holen. Ich hätte es merken müssen, wenn jemand hinter mir her war. Und warum? Da hätten sie mich doch gar nicht erst loszulassen brauchen.»
Aber sie hatte es schon überlegt: «Sie glauben, du kennst
den Kartenschreiber und bringst sie auf die Spur.
Und vielleicht kennst du ihn wirklich und hast die Karte doch selbst dorthin gelegt. Aber ich will es gar nicht wissen, das sollst du mir nie sagen!» Sie bückte sich zu ihm und flüsterte: «Ich gehe jetzt eine halbe Stunde weg, Hänschen, und beobachte das Haus, ob vielleicht doch irgendwo
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