Jeder stirbt für sich allein
nicht, aber er hatte jetzt wohl viel Gänge durch seine Einberufung. Vormittags ab zehn Uhr war das Geschäft sonst immer geöffnet gewesen - vielleicht versuchte sie es morgen vormittag?
Sie dankte und fuhr zu ihrer Schneiderin. Vor dem Hause aber blieb sie erschrocken stehen. In der Nacht war eine
Fliegerbombe hineingegangen, das Haus war nur noch eine Ruine. Die Leute gingen eilig daran vorüber, manche mit absichtlich abgewandten Gesichtern, die das Grauen der Zerstörung nicht sehen wollten, oder die Angst hatten, ihre Erbitterung nicht verbergen zu können, andere besonders langsam (Polizei sorgte dafür, daß niemand stehenblieb), entweder mit sorglos lächelnden, neugierigen Gesichtern oder mit einem finsteren, fast drohenden Blick die Verwüstung musternd.
Ja, Berlin wurde jetzt öfter in den Keller geschickt, und jetzt fielen auch immer häufiger Bomben und die gefürchteten Phosphorkanister. Immer öfter wurde jetzt auch das Wort Görings zitiert, er wolle Meier heißen, wenn sich ein feindliches Flugzeug über Berlin sehen ließe. In der vergangenen Nacht hatte Frau Hete auch im Keller gesessen, allein, denn sie wollte nicht, daß Enno schon jetzt als ihr offizieller Freund und Hausgenosse gesehen wurde.
Sie hatte das Surren der Flieger über sich gehört, dieses nervenzerrüttende Geräusch, wie wenn immer wieder ei-ne Mücke sirrt und surrt. Das Geräusch von Einschlägen hatte sie nicht gehört, ihre Gegend war bisher noch ganz verschont geblieben. Die Leute erzählten ja, die Engländer wollten den Arbeitern nichts tun, sie wollten nur die feinen Familien im Westen erledigen ...
Die Schneiderin war kein reicher Mensch gewesen, nun hatte sie es doch getroffen. Frau Hete Häberle suchte von einem Schutzmann zu erfahren, wo die Schneiderin geblieben, ob ihr etwas geschehen sei. Der Schutzmann be-dauerte, keine Auskunft geben zu können. Vielleicht ginge die Dame mal aufs Revier, oder sie erkundigte sich auch auf der nächsten Stelle des Luftschutzbundes?
Aber dazu hatte Frau Hete jetzt keine Ruhe. So leid ihr die Schneiderin auch tat, und so gerne sie etwas über ihr Ergehen erfahren hätte, es drängte Hete jetzt nach Haus.
Immer, wenn man so etwas sah, drängte es einen nach Haus. Sofort mußte man sich dort überzeugen, daß auch alles in Ordnung war. Es war töricht, man wußte es, aber man fuhr doch los. Man mußte sich erst mit eigenen Augen überführen, daß dort nichts geschehen war.
Aber leider war doch etwas geschehen mit der kleinen Tierhandlung am Königstor. Nichts Tragisches, gewiß nicht, und doch erschütterte es Frau Häberle tief, tiefer als manches Erlebnis in vielen Jahren. Frau Häberle fand den Rolladen vor dem Laden heruntergelassen, und an ihm war ein Schild festgemacht, ein Schild mit der dummen Inschrift, über die sie sich immer empört hatte: «Komme gleich wieder.» Und darunter: «Frau Hedwig Häberle.»
Daß unter diesem Zettel auch noch ihr Name stand, daß sie mit ihrem guten Namen diese Liederei und Pflichtvergessenheit decken mußte, das beleidigte sie fast ebenso tief wie der Vertrauensbruch, den Enno begangen hatte. Hinter ihrem Rücken fortgeschlichen, und hinter ihrem Rük-ken hätte er auch wieder aufgemacht, hätte ihr kein Wort davon gesagt, daß er sie belogen hatte. Und wie dumm dabei, wie überaus dumm, denn es war doch fast sicher, daß eine ihrer Stammkundinnen sie fragte: «Gestern nachmittag zugehabt? Unterwegs gewesen, Frau Häberle?»
Sie kommt über den Hausflur in ihre Wohnung. Dann zieht sie den Laden von ihrer Ladentür hoch, öffnet die Tür. Sie wartet, bis der erste Kunde kommt, nein, sie möchte jetzt gar nicht, daß er kommt. Solch ein Verrat hinter ihrem Rücken - in ihrer ganzen Ehe mit Walter hat es nie so etwas gegeben. Immer hatten sie volles Vertrauen zueinander, und nie hatte eines je das Vertrauen des andern getäuscht. Und nun dies! Sie hatte ihm doch nicht die geringste Veranlassung gegeben!
Die erste Kundin kommt, sie wird von ihr bedient; aber als Hete ihr auf einen Zwanzigmarkschein herausgeben will und die Ladenkasse aufzieht, ist die leer. Es war reichlich Wechselgeld in der Kasse, als sie fortging, an die hundert Mark. Sie bezwingt sich, sie holt aus ihrer Handtasche Geld, gibt heraus, fertig! Die Ladentür bimmelt.
Ja, jetzt möchte sie den Laden zuschließen und ganz mit sich allein sein. Ihr fällt ein - während sie immer weiter
Kundschaft abfertigt -, daß es ihr in den letzten Tagen schon ein paarmal so
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