Jeder stirbt für sich allein
vorgekommen war, als könne die Kasse nicht ganz stimmen, als müsse die Tageslosung höher sein. Damals hat sie solche Gedanken unmutig verjagt. Was sollte Enno auch mit dem Geld anfangen? Er kam ja gar nicht aus dem Hause, war immer unter ihren Augen!
Aber jetzt denkt sie daran, daß die Toilette auf der halben Treppe liegt, und daß er viel mehr Zigaretten geraucht hat, als er in seinem Köfferchen mitgebracht haben kann. Sicher hat er jemanden im Hause gefunden, der ihm Zigaretten holt, schwarz gekaufte, ohne Karte, hinter ihrem Rücken! Wie schmählich und gemein! Sie hätte ihn liebend gerne mit Zigaretten versorgt, er hätte nur den Mund auftun müssen!
In diesen anderthalb Stunden bis zum Wiederauftau-chen Ennos kämpft Frau Häberle einen schweren Kampf mit sich. In den letzten Tagen hat sie sich daran gewöhnt, daß wieder ein Mann im Hause ist, daß sie nicht mehr allein ist, sondern für jemanden zu sorgen hat, für jemanden, den sie gerne hat. Aber wenn der Mann so ist, wie es jetzt den Anschein hat, so muß sie die Liebe ausreißen aus ihrem Herzen! Besser allein sein als in solch ewigem Mißtrauen und in solcher grauenvollen Angst leben! Sie kann ja nicht mehr um die Ecke in den Grünkram gehen, schon muß sie Angst haben, er betrügt sie wieder!
Und dann fällt Hete ein, daß es ihr auch so vorgekommen ist, als lägen die Sachen nicht ganz richtig in ihrem Wäschespind. Nein, es muß sein, sie muß ihn fortschik-ken, heute noch, so schwer es ihr auch fällt. Später würde es noch schwerer sein.
Aber dann denkt sie daran, daß sie eine alternde Frau ist, daß dies vielleicht ihre letzte Gelegenheit ist, einem einsamen Lebensabend zu entgehen. Nach diesem Erlebnis mit Enno Kluge wird sie sich kaum noch entschließen, mit einem andern Manne es aufs neue zu versuchen. Nach diesem erschreckenden, zerschmetternden Erlebnis mit Enno!
«Ja, Mehlwürmer sind wieder da. Wieviel darf es denn sein, meine Dame?»
Eine halbe Stunde vor Ladenschluß kommt Enno. Es ist für ihren Gefühlszustand bezeichnend, daß sie erst jetzt daran denkt, daß er sich ja gar nicht auf der Straße sehen lassen soll, in solcher Gefahr, wie er durch die Gestapo war! Bisher hat sie daran gar nicht denken können, so sehr war sie mit dem Verrat beschäftigt, den er an ihr begangen. Aber was helfen denn alle Vorsichtsmaßregeln, wenn er in ihrer Abwesenheit einfach losläuft? Und vielleicht ist all das mit der Gestapo auch Lug und Trug? Bei diesem Manne ist alles möglich!
Er hat natürlich schon an dem hochgezogenen Rolladen
gemerkt, daß sie wieder im Laden ist. Er kommt von der Straße herein, vorsichtig und behutsam schlängelt er sich durch die Kunden, lächelt ihr zu, als sei nicht das geringste vorgefallen, und sagt, in der Stube verschwindend:
«Ich komme gleich und helfe, Chefin!»
Und er kommt wirklich sehr schnell zurück, und notgedrungen, um vor der Kundschaft das Ansehen zu bewahren, muß sie mit ihm sprechen, ihm Anweisungen geben, tun, als sei nichts geschehen - und doch ist ihre Welt eingestürzt! Aber sie läßt sich nichts merken, sie geht sogar auf seine schwachen Witzchen ein, die er heute besonders reichlich bereithält, und nur, als er an die Ladenkasse will, sagt sie scharf: «Bitte, die Kasse besorge ich!»
Er ist etwas zusammengefahren, mit einem scheuen Blick sieht er sie von der Seite an - wie ein Hund, der geschlagen wird, ja, genau wie ein verprügelter Hund, denkt sie. Dann hat sich seine Hand in die Tasche getastet, ein Lächeln ist auf sein Gesicht getreten, jawohl, er hat den Schlag schon wieder verwunden.
«Zu Befehl, Chefin!» schnarrt er und knallt die Absätze zusammen.
Die Kunden lachen über den kleinen, komischen Mann, der da Soldat spielen will, aber ihr ist nicht zum Lachen zumute.
Dann ist der Laden geschlossen. Fünf Viertelstunden arbeiten sie noch eifrig miteinander, ganz mit Füttern und Tränken und Säubern beschäftigt, beide schließlich fast wortlos, nachdem sie auf seine Scherze, die er immer wieder versuchte, nicht eingegangen war.
Frau Hete steht in der Küche, sie macht das Abendessen zurecht. Sie hat Bratkartoffeln in der Pfanne, richtige, schöne Bratkartoffeln, mit Speck angebraten. Den Speck hat sie von einer Kundin im Austausch gegen einen Har-zer Roller bekommen. Sie hat sich darauf gefreut, ihn mit einem so schönen Abendessen überraschen zu können, denn er ißt gerne was Gutes. Die Kartoffeln werden schön goldgelb.
Aber plötzlich löscht sie die
Weitere Kostenlose Bücher