Jeder stirbt für sich allein
spähte nach den Spuren von einem Schlag in seinem Gesicht, aber sie konnte nichts sehen. Sichtlich hatte der Bengel sie nicht wiedererkannt, bei seinem Gespräch mit Borkhausen hatte er sie wohl gar nicht beachtet. Das würde gegen Spitzelei sprechen.
«Hier wohnst du?» fragte sie. «Ich hab dich doch noch nie hier auf der Straße gesehen.»
«Kann ick for Ihre Oogen?!» fragte er frech. Er pfiff durchdringend den Ludenpfiff auf einem Finger. Er schrie an dem Hause hoch: «Mutta, kiek mal aus't Fenster! Da is
'ne Frau, die will nich gloob'n, dette schielst! Mutta, schiel ihr mal watt!»
Lachend lief Frau Hete in ihren Laden, jetzt auch völlig
überzeugt, daß sie, was diesen Jungen anlangte, Gespenster gesehen hatte.
Aber beim Packen wurde sie wieder ernst. Ihr kamen Bedenken, ob sie auch recht daran tat, den Enno zu ihrer Freundin Anna Schönlein zu bringen. Gewiß, die Anne riskierte alle Tage ihr Leben für jeden Unbekannten, dem sie Obdach gewährte. Aber der Frau Hete war es, als schmuggle sie der Anne doch mit Enno Kluge ein rechtes Kuckucksei ein. Zwar schien der Enno wirklich ein politischer, kein gewöhnlicher Verbrecher, das hatte jetzt sogar der Borkhausen bestätigt, aber ...
Er war so leichtsinnig, nicht so sehr aus Unbedachtheit, sondern aus einer völligen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal seiner Mitmenschen heraus. Es kam ihm gar nicht darauf an, was mit ihnen geschah. Er dachte immer nur an sich, und er war imstande, jeden Tag zweimal zu ihr, zur Hete, zu laufen, unter dem Vorgeben, er sehne sich nach ihr, und zog so alle Gefahr auf Annes Kopf. Sie, die Hete, hatte Autorität über ihn, die Anne aber nicht.
Mit einem schweren Seufzer tut Frau Hete Häberle dreihundert Mark in einen Umschlag, den sie oben in den Koffer legt. Heute hat sie mehr Geld ausgegeben, als sie in zwei Jahren gespart hat. Aber sie wird noch ein weiteres Opfer bringen, sie wird dem Enno für jeden Tag, an dem er die Wohnung der Freundin überhaupt nicht verläßt, hundert Mark versprechen. Er ist ja leider so, daß sie ihm einen solchen Vorschlag machen kann. Er wird nicht ge-kränkt sein, er wird höchstens im ersten Augenblick ein bißchen gekränkt tun. Aber das wird ihn wohl im Hause halten, er ist auf Geld gierig.
Mit dem Koffer in der Hand verläßt Frau Hete das Haus. Der blonde Junge spielt nicht mehr auf der Straße, vielleicht ist er jetzt bei seiner schielenden Mutter. Sie geht zu der Kneipe am Alexanderplatz, wo sie den Enno treffen wird.
Emil Borkhausen und sein Sohn
Ja, Borkhausen hatte sich sehr wohl gefühlt in diesem vornehmen D-Zug im noblen Zweiter-Klasse-Abteil mit Offizieren und Generalen und Damen, die so wunderschön rochen. Es störte ihn gar nicht, daß er weder elegant noch wohlriechend war und daß seine Mitreisenden keine freundlichen Blicke auf ihn warfen, Borkhausen war es gewohnt, unfreundlich angesehen zu werden. Kaum je in seinem jämmerlichen Leben hatte ein Mitmensch einen freundlichen Blick für ihn übrig gehabt.
Borkhausen genoß sein kurzes Glück mit vollen Zügen, denn kurz war es nur. Es mußte nicht bis München währen, dieses Glück, nicht einmal bis Leipzig, wie er zuerst gefürchtet hatte, sondern nur bis Lichterfelde, denn dieser Zug hielt noch einmal in Lichterfelde. Das war der Fehler in Frau Hetes Berechnung gewesen. Man mußte, hatte man Geld in München zu bekommen, nicht gleich dorthin fahren. Man konnte es später tun, wenn man die drin-gendsten Geschäfte in der Stadt Berlin erledigt hatte. Und das dringendste Geschäft war jetzt, den Enno dem Escherich zu melden und fünfhundert Mark zu kassieren. Übrigens brauchte man vielleicht überhaupt nicht nach München zu
fahren, man brauchte der Post nur zu schreiben, daß sie das Geld hierher nach Berlin zur Auszahlung senden sollte. Jedenfalls kam eine sofortige Reise nach München nicht in Frage.
Also stieg - nicht ohne leises Bedauern - Emil Borkhausen in Lichterfelde aus. Er hatte noch eine kleine, lebhafte Debatte mit dem Fahrdienstleiter, der nicht einsehen wollte, daß man sich im Zuge zwischen Anhalter Bahnhof und Lichterfelde noch einmal eine Reise nach München anders überlegen kann. Überhaupt kam diesem Manne der ganze Borkhausen höchst verdächtig vor.
Borkhausen aber blieb unerschütterlich: «Rufen Sie nur auf der Gestapo an, Kommissar Escherich, und Sie werden sehen, wer recht hat, Herr Stationsvorsteher! Aber die Läuse, die Sie sich dann in den Pelz gesetzt haben! Ich bin nämlich
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