Jeder stirbt für sich allein
Vorgefühl: Wenn du die Tür aufmachst, kommt Unglück ins Haus!».
«Ich gehe ganz leise und sage dir erst Bescheid.» Er ging.
Sie lag in zorniger Ungeduld. Daß er doch nie und nie nachgab, ihr niemals eine Bitte erfüllen konnte! Es war falsch, was er tat; Unglück lauerte draußen, aber jetzt fühlte er es nicht, wo es wirklich da war. Und nun hält er nicht einmal sein Wort! Sie hört, er hat die Tür geöffnet und spricht mit einem Mann. Und er hat ihr doch fest versprochen, ihr erst Bescheid zu sagen.
«Nun, was ist? Rede doch, Otto! Du siehst, ich vergehe vor Ungeduld! Was ist das für ein Mann? Er ist noch nicht aus der Wohnung!»
«Es ist nichts Aufregendes, Anna. Bloß ein Bote aus der
Fabrik. Der Werkmeister von der Vormittagsschicht ist verunglückt - ich muß sofort für ihn einspringen.»
Sie legt sich, nun doch ein wenig beruhigt, in die Kissen zurück. «Und du gehst?»
«Natürlich!»
«Du hast noch kein Mittagessen!»
«Ich werde schon was in der Kantine kriegen!»
«Stecke dir wenigstens Brot ein!»
«Ja, ja, Anna, sorge dich um nichts. Es ist schlimm, daß ich dich hier so lange allein liegenlassen muß.»
«Um eins hättest du doch gehen müssen.» «Ich werde meine eigene Schicht gleich hinterher abreißen.»
«Der Mann wartet?»
«Ja, ich fahre gleich mit ihm zurück.»
«Also komm schnell wieder, Otto. Nimm heut mal die Elektrische!»
«Versteht sich, Anna. Gute Besserung!»
Er war schon im Gehen, da rief sie: «Ach, bitte, Otto, gib mir doch noch einen Kuß!»
Er kam zurück, ein wenig verwundert, ein wenig verlegen wegen dieses bei ihnen so ungewohnten Zärtlichkeitsbedürfnisses. Er drückte seine Lippen auf ihren Mund.
Sie zog seinen Kopf fest an sich und küßte ihn herzhaft.
«Ich bin dumm, Otto», sagte sie. «Ich habe noch immer Angst. Das macht wohl das Fieber. Aber jetzt geh!»
So trennten sie sich. Als freie Menschen sollten sie sich nie wiedersehen. An die Postkarten in seiner Tasche hatten sie beide im eiligen Aufbruch nicht mehr gedacht.
Aber dem alten Werkmeister fallen die Karten sofort wieder ein, als er mit seinem Begleiter in der Elektrischen sitzt. Er faßt in die Tasche - da sind sie! Er ist unzufrieden mit sich, daran hätte er denken müssen! Lieber hätte er die Dinger zu Haus gelassen, lieber wäre er noch jetzt aus der Bahn gestiegen, um sie in irgendeinem Hause abzulegen. Aber er findet keinen Vorwand, den er seinem Begleiter plausibel machen kann. So muß er die Karten in den Betrieb mitnehmen, etwas, das er noch nie getan hat, das er nie hätte tun dürfen - aber jetzt ist es zu spät.
Er steht auf dem Klosett. Er hat die Karten schon in den Händen, er will sie zerreißen, fortspülen - und sein Blick fällt auf das mit so vieler Mühe, in so vielen Stunden Geschriebene: es scheint ihm stark wirkungsvoll. Es wäre schade darum, eine solche Waffe zu vernichten. Seine Sparsamkeit, sein «schmutziger Geiz» hindern ihn an der Vernichtung, aber auch sein Respekt vor der Arbeit; alles, was Arbeit geschaffen hat, ist heilig. Es ist eine Sünde, Arbeit nutzlos zu zerstören.
Aber in der Jacke, die er auch in der Werkstatt trägt, kann er die Karten nicht lassen. So legt er sie in die Aktentasche zu dem Brot, zu der Thermosflasche mit Kaffee.
Otto Quangel weiß sehr wohl, daß an der Seite der Aktentasche eine Naht offen ist, schon seit Wochen sollte sie zum Sattler. Aber der ist überlastet mit Arbeit und hat geknurrt, zwei Wochen werde die Reparatur wenigstens dauern. So lange hat Quangel die Tasche nicht entbehren wollen, und es ist ihm ja auch noch nie etwas herausgefallen. Also legt er die Karten unbesorgt hinein.
Er geht durch die Werkstatt zu den Ankleideschränken, langsam, schon dorthin und dahin schauend. Es ist eine fremde Belegschaft, er sieht kaum ein bekanntes Gesicht, manchmal nickt er. Einmal legt er auch Hand an. Die Leute sehen ihn neugierig an, ihn kennen viele: Ach ja, das ist der olle Quangel, ein komischer Vogel, aber seine Belegschaft schimpft nie auf ihn, gerecht ist er, das muß man ihm lassen. I wo, ein Antreiber ist er, das Letzte holt er aus seinen Leuten heraus. Aber nein, nie schimpft jemand aus seiner Belegschaft auf ihn. Wie der komisch aussieht, der hat wohl Scharniere am Kopf, der nickt damit so komisch. Still, jetzt kommt er zurück, der kann Quasseln auf den Tod nicht ausstehen, der kiekt jeden, der quasselt, in Grund und Boden.
Otto Quangel hat seine Aktentasche in den Schrank gestellt, die Schlüssel sind
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