Jeder stirbt für sich allein
Und ich hatte Sie doch gebeten ...»
«Was kann ich machen, Pastor? Ich selbst habe heute zwei Stunden bei dem Mann gesessen und ihm Umschläge gemacht.»
«Dann muß ich geschlafen haben. Ich glaubte bisher, ich hätte die ganze Nacht bei 352 gesessen. Und es war auch mit seiner Lunge nichts, Herr Doktor, 357 hatte eine Lungenentzündung. Der tote Hergesell auf 352 hatte einen Schädelbruch.»
«Sie sollten an meiner Stelle hier Arzt sein», sagt der schwammige Mann spöttisch. «Ich kann ja den Seelsorger machen.»
«Ich fürchte nur, Sie würden einen noch schlechteren Seelsorger abgeben als Arzt.»
Der Doktor lacht. «Wenn Sie frech werden, Pfäfflein, liebe ich Sie. Darf ich nicht einmal Ihre Lunge untersuchen?»
Der Pastor sagt unbeirrt: «Nein, das dürfen Sie nicht, das wollen wir lieber einem anderen Arzt überlassen.»
«Aber auch ohne Untersuchung kann ich Ihnen mitteilen, daß Sie es kein Vierteljahr mehr machen werden», fuhr der Arzt boshaft fort. «Ich weiß, Sie werfen schon seit Mai Blut aus - nein, es wird nicht mehr lange dauern bis zum ersten Blutsturz.»
Der Pastor war bei der grausamen Eröffnung vielleicht einen Schatten blasser geworden, aber seine Stimme schwankte nicht, als er sagte: «Und wieviel Zeit werden die Leute, die Sie eben in Dunkelarrest haben abführen lassen, bis zu ihrem ersten Blutsturz noch haben, Herr Medizinalrat?»
«Die Leute sind sämtlich gesund und dunkelarrestfähig - laut ärztlichem Befund.»
«Freilich sind sie gar nicht erst untersucht worden.»
«Wollen Sie meine Amtsführung kontrollieren? Ich warne Sie! Ich weiß mehr von Ihnen, als Sie glauben!»
«Und mit meinem ersten Blutsturz wird Ihr Wissen wertlos!
Übrigens habe ich ihn schon hinter mir ...»
«Was? Was haben Sie hinter sich?!»
«Meinen ersten Blutsturz - vor drei oder vier Tagen.»
Der Arzt stand schwerfällig auf. «Also kommen Sie mit mir, Pfäffchen, ich werde Sie oben in meiner Bude untersuchen. Ich werde erreichen, daß Sie sofort Urlaub bekommen. Wir werden einen Antrag machen, daß Sie in die Schweiz dürfen, und bis der bewilligt ist, schicke ich Sie nach Thüringen.»
Der Pastor, nach dessen Arm der Halbtrunkene gegriffen hatte, stand unbeweglich. «Und was wird unterdes mit den Männern im Dunkelarrest? Zwei von ihnen sind bestimmt nicht fähig, die Nässe, die Kälte und den Hunger dort zu ertragen, und allen sieben würde es dauernden Schaden tun.»
Der Arzt antwortete: «Sechzig Prozent der Leute in diesem Hause werden hingerichtet. Ich schätze, daß mindestens fünfunddreißig Prozent der übrigen zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt werden. Was kommt es also darauf an, ob sie ein Vierteljahr früher oder später sterben?»
«Da Sie so denken, haben Sie kein Recht mehr, sich hier Arzt zu nennen. Treten Sie von Ihrem Amt zurück!» «Der nach mir kommt, wird auch nicht anders sein. Warum also ändern?»
Der Medizinalrat lachte. «Kommen Sie, Pastor, lassen Sie sich untersuchen. Sie wissen doch, ich habe eine Schwäche für Sie, trotzdem Sie ständig gegen mich wühlen und hetzen. Sie sind so ein prachtvoller Don Quichot-te!»
«Ich habe eben auch gegen Sie gewühlt und gehetzt. Ich habe beim Direktor Ihre Ablösung beantragt und eine Dreiviertel-Zusage bekommen.»
Der Arzt fing an zu lachen. Er klopfte dem Pastor auf die Schulter und rief: «Aber das ist ja prächtig von Ihnen, Pfäfflein, da muß ich Ihnen ja direkt dankbar sein. Denn wenn ich abgelöst werde, falle ich bestimmt die Treppe hinauf, werde Obermedizinalrat und brauche gar nichts mehr zu tun. Meinen innigsten Dank, Pfäfflein!»
«Zeigen Sie ihn dadurch, daß Sie den Kraus und den kleinen Wendt aus dem Dunkelarrest holen. Sie überstehen ihn nicht lebend. Wir haben in den letzten beiden Wochen schon sieben Todesfälle durch Ihre Nachlässigkeit gehabt.»
«Sie Schmeichler! Aber ich kann Ihnen nun mal keinen Korb geben. Ich werde die beiden heute abend rausholen.
Jetzt gleich, nachdem ich eben meine Unterschrift gegeben
habe, würde es doch etwas zu kompromittierend für mich aussehen, oder was meinen Sie, Pastor?»
Trudel Hergesell, geborene Baumann
Die Verlegung in das Untersuchungsgefängnis hatte Trudel Hergesell von Anna Quangel getrennt. Es wurde Trudel schwer, die «Mutter» entbehren zu müssen. Sie hatte längst vergessen, daß Anna der Grund ihrer Verhaftung gewesen war, nein, sie hatte es nicht vergessen, aber sie hatte es verziehen. Mehr noch, sie hatte eingesehen, daß es
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