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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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dadurch, daß der zurückzulegende Weg sehr viel weiter war, denn Kluges wohnten jenseits des Friedrichshains. Enno konnte ebensowenig gehen wie Borkhausen, aber Persicke konnte ihn nicht auf der Straße am Kragen oder am Arm neben sich her schleifen. Es war ihm überhaupt peinlich, in der Gesellschaft dieses zerschlagenen, betrunkenen Mannes gesehen zu werden, denn je geringer er von seiner eigenen und seiner Mitmenschen Ehre dachte, um so höher stellte er die Ehre seiner Uniform.
    Es war ebenso vergeblich, dem Kluge zu befehlen, kurz vor ihm, wie einen Schritt hinter ihm zu gehen, immer hatte er die gleiche Neigung, sich auf die Erde zu setzen, zu stolpern, sich an Bäumen und Wänden festzuhalten oder gegen Passanten zu streifen. Umsonst war da jeder
    Faustschlag, jedes noch so scharfe Kommando, der Körper tat einfach nicht mit, und ihm die scharfe Abreibung zu erteilen, die ihn vielleicht doch nüchtern gemacht hätte, dafür waren die Straßen schon zu belebt. Persicke stand der Schweiß auf der Stirn, seine Kinnbackenmuskeln bewegten sich krampfhaft vor Wut, und er schwor es sich zu, dieser kleinen Giftkröte von Baldur einmal gründlich zu sagen, was er von solchen Aufträgen hielt.
    Er mußte die Hauptstraßen meiden, Umwege durch stil-lere Nebenstraßen machen. Dann packte er den Kluge unter dem Arm und trug ihn oft zwei, drei Straßenecken weit, bis er nicht mehr konnte. Viel Beschwer machte ihm auch eine Zeitlang ein Schupo, dem dieser etwas gewalt-same Frühtransport wohl aufgefallen war und der ihm durch seinen ganzen Bezirk folgte, den Persicke dadurch zu einem sanften und besorgten Benehmen zwingend.
    Aber er nahm, als sie endlich im Friedrichshain angekommen waren, seine Rache dafür. Er setzte den Kluge hinter einem Gebüsch auf die Bank und bearbeitete ihn dann so, daß der Mann zehn Minuten lang völlig ohnmächtig dalag. Dieser kleine Rennwetter, dem alles auf der Welt außer Interesse war, ausgenommen die Rennpferde, die er freilich zeit seines Lebens nur in den Zeitungen zu Gesicht bekommen hatte, dieses Geschöpf, das weder Liebe noch Haß empfinden konnte, dieser Arbeitsscheue, der alle Windungen seines kümmerlichen Hirns damit beschäftigt hatte, wie wirklicher Anstrengung zu entgehen war, dieser Mann Enno Kluge, blaß, genügsam, farblos, er behielt von diesem Zusammentreffen mit den Persickes vor jeder Parteiuniform eine Angst, die ihn fortan in Seele und Geist lähmen sollte, wenn er mit solchen Parteileuten in Berührung kam.
    Ein paar Tritte in die Rippen weckten ihn aus seiner Ohnmacht, ein paar Schläge auf seinen Rücken setzten ihn in Gang, und so trabte er denn, feige wie ein verprügelter Hund, vor seinem Peiniger her, bis die Wohnung der Frau erreicht war. Aber die Tür war verschlossen: die Briefträgerin Eva Kluge, die in der Nacht noch an ihrem Sohn und damit an ihrem Leben verzweifelt war, hatte sich wieder auf ihren gewohnten Trott gemacht, den Brief an ihren Sohn Max in der Tasche, aber mit sehr wenig Hoffnung und Glauben im Herzen. Sie bestellte Post, wie sie es seit Jahren getan hatte, es war immer noch besser, als tatenlos und von trüben Gedanken gequält zu Hause zu sitzen.
    Persicke, nachdem er sich überzeugt hatte, die Frau war wirklich nicht zu Haus, klingelte an der Nachbartür, zu-fällig an der Tür jener Frau Gesch, die dem Enno am Abend zuvor mit einer Lüge in die Wohnung seiner Frau geholfen hatte. Persicke schob der Öffnenden das Jammergestell einfach in die Arme, sagte: «Da! Kümmern Sie sich um den Kerl, er gehört ja wohl hierher!» Und ging.
    Frau Gesch war fest entschlossen gewesen, sich nie wieder in die Angelegenheiten der Kluges zu mischen. Aber so groß war die Gewalt eines SS-Mannes und die Angst jedes Volksgenossen vor ihm, daß sie den Kluge widerspruchslos in ihre Wohnung aufnahm, an den Küchentisch setzte und Kaffee und Brot vor ihn hinstellte. Ihr Mann war schon zur Arbeit gegangen. Frau Gesch sah wohl, wie erschöpft der kleine Kluge war, sie sah auch in seinem Gesicht, an dem zerrissenen Hemd, dem Schmutz-fleck am Mantel die Spuren einer dauernden Mißhandlung. Da ihr der Kluge aber von einem SS-Mann übergeben war, so hütete sie sich, eine einzige Frage zu stellen.
    Ja, sie hätte ihn eher vor ihre Wohnungstür gesetzt als eine Schilderung des ihm Widerfahrenen angehört. Sie wollte nichts wissen. Wenn sie nichts wußte, konnte sie auch nichts aussagen, nicht sich verplappern, nicht schwatzen, konnte sie sich also auch nicht in

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