Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
Menschen - was ihr aber anscheinend nicht vergönnt war. Keine Scham oder Schuldgefühle mehr, keine Schicksalsergebenheit oder Sorge. Nur noch blanker Zorn - weil sie in ihrem Leben so oft im Stich gelassen und verraten worden war. Von ihrem Körper, von ihrem Mann, von Gott. Und jetzt von Amelia Sachs.
»Hallo, Lucy?«, fragte Pete aus Elizabeth City.
»Sind Sie noch da?«
»Ja, ich bin dran.«
»Sie... ist alles in Ordnung? Sie klingen so komisch.« Sie räusperte sich.
»Bestens. Seid ihr so weit?«
»Ihr könnt loslegen. Wann kommt der Anruf?« Lucy schaute in das andere Zimmer.
»Alles klar?«, rief sie. Rhyme nickte.
»Jeden Moment«, sagte sie ins Telefon.
»Bleiben Sie dran«, sagte Gregg.
»Ich verbinde.« Bitte mach, dass es funktioniert, dachte Lucy. Bitte... Und dann ergänzte sie das Gebet um einen weiteren Wunsch. Und bitte, lieber Gott, gib mir freie Schussbahn auf meinen Judas. Thom setzte Rhyme den Kopfhörer auf. Dann tippte der Betreuer eine Nummer ein. Wenn Sachs' Telefon abgestellt war, würde es nur dreimal klingeln, und dann würde sich die munter trällernde Stimme der Mailbox melden. Es klingelte einmal... zweimal...
»Hallo?« Rhyme meinte noch nie so erleichtert gewesen zu sein wie jetzt, als er ihre Stimme hörte.
»Sachs, ist alles in Ordnung?« Kurzes Schweigen.
»Mir fehlt nichts.« Er sah Lucy Kerr im Zimmer nebenan mit finsterer Miene nicken.
»Hör mir zu, Sachs. Hör mir zu. Ich weiß, warum du das getan hast, aber du musst dich stellen. Du... bist du noch dran?«
»Ich bin dran, Rhyme.«
»Ich weiß, was du vorhast. Garrett hat sich bereit erklärt, dich zu Mary Beth zu bringen.«
»Richtig.«
»Du darfst ihm nicht trauen«, sagte Rhyme. (Genauso wenig wie mir, dachte er verzweifelt. Er sah, wie Lucy mit dem Zeigefinger einen Kreis beschrieb, was so viel hieß wie hinhalten.)
»Ich habe mit Jim Bell eine Abmachung getroffen. Wenn du ihn zurückbringst, lassen sie sich bei der Anklage gegen dich etwas einfallen. Die Staatspolizei ist noch nicht eingeschaltet. Und ich bleibe so lange hier, bis Mary Beth gefunden ist. Ich habe die Operation verschoben.« Er schloss einen Moment lang die Augen, von bohrendem Schuldgefühl geplagt. Aber er hatte keine andere Wahl. Er malte sich aus, wie die Frau in Blackwater Landing gestorben war oder Deputy Ed Schaeffer... Stellte sich vor, wie die Hornissen über Amelias Körper schwärmten. Er musste sie verraten, um sie zu retten.
»Garrett ist unschuldig, Rhyme. Ich weiß es. Ich konnte nicht zulassen, dass er in die Strafanstalt kommt. Die bringen ihn dort um.«
»Dann sorgen wir dafür, dass er irgendwo anders inhaftiert wird. Und wir nehmen uns die Spuren noch mal vor. Wir werden weitere Spuren finden. Wir machen das gemeinsam. Du und ich. Das sagen wir doch immer, Sachs, stimmt's? Du und ich... Immer wieder du und ich. Es gibt nichts, was wir nicht finden können.« Wieder kurzes Schweigen.
»Garrett hat niemand, der ihm beisteht. Er ist ganz allein, Rhyme.«
»Wir können ihn beschützen.«
»Du kannst niemand vor einer ganzen Stadt beschützen, Lincoln.«
»Keine Vornamen«, sagte Rhyme.
»Das bringt Unglück, weißt du noch?«
»Die ganze Sache ist ein einziges Unglück.«
»Bitte, Sachs...«
»Manchmal muss man sich einfach auf sein Gefühl verlassen.«
»Na, wer gibt denn nun Lehrsätze zum Besten?« Er rang sich ein Lachen ab - teils, um sie zu beruhigen. Teils seinetwegen. Leise Störgeräusche. Komm heim, Sachs, dachte er. Bitte! Noch können wir etwas retten. Dein Leben hängt an einem seidenen Faden, der ebenso dünn ist wie der Nervenstrang in meinem Hals - die einzige Faser, die noch funktioniert. Und es ist mir genauso teuer.
»Garrett sagt, dass wir bis heute Abend oder morgen früh zu Mary Beth gelangen können. Ich melde mich bei dir, wenn wir sie haben«, sagte sie.
»Sachs, leg noch nicht auf. Eins noch. Lass mich noch eines sagen.«
»Was?«
»Egal, was du von Garrett hältst, trau ihm nicht. Du hältst ihn für unschuldig. Aber du musst einfach einsehen, dass er es möglicherweise nicht ist. Du weißt doch, wie wir bei der Tatortarbeit vorgehen, Sachs.«
»Unvoreingenommen«, zitierte sie die Regel.
»Ohne vorgefasste Meinung. Alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
»Richtig. Versprich mir, dass du stets daran denkst.«
»Er trägt Handschellen, Rhyme.«
»Belass es dabei. Und sieh zu, dass er nicht an deine Waffe rankommt.«
»Wird gemacht. Ich melde mich, wenn wir Mary Beth
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