Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
habe sie, Rhyme. Da sind allerhand angestrichene Stellen drin. Ein paar mit Sternchen versehen.«
»Gut. Bring sie mit. Aber in dem Zimmer muss es noch etwas Eindeutigeres geben.«
»Ich finde aber nichts.«
»Such weiter, Sachs. Er ist sechzehn Jahre alt. Du kennst dich doch mit jugendlichen Straftätern aus. Für einen Teenager ist das eigene Zimmer der Mittelpunkt seines Universums. Versetz dich in einen Sechzehnjährigen hinein. Wo würde er etwas verstecken?«
Sie schaute unter der Matratze nach, in und unter den Schreibtischschubladen, im Kleiderschrank, unter den schmuddeligen Kissen. Dann leuchtete sie mit der Taschenlampe zwischen Bett und Wand.
»Hier ist irgendwas, Rhyme...«
»Was?«
Sie fand eine Unmenge zusammengeknüllter Kleenex-Tücher, eine Flasche Vaseline-Hautpflegelotion. Sie untersuchte ein Kleenex. Bei den Flecken handelte es sich offenbar um getrocknete Samenspuren.
»Papiertücher unter dem Bett. Der Junge war tüchtig mit der rechten Hand.«
»Er ist sechzehn« , sagte Rhyme.
»Alles andere wäre unnatürlich. Tüte eins ein. Vielleicht brauchen wir ein paar DNS-Spuren.«
Unter dem Bett fand Sachs noch mehr. Einen billigen Bilderrahmen, auf den er mit ungelenker Hand Insekten gemalt hatte -Ameisen, Hornissen und Käfer. Das aus dem Jahrbuch ausgeschnittene Foto von Mary Beth McConnell war darin eingespannt. Außerdem befand sich hier ein Album mit einem Dutzend weiterer Bilder von Mary Beth. Es waren Schnappschüsse. Auf den meisten war eine junge Frau zu sehen, die sich offenbar auf einem Universitätsgelände befand oder die Straße einer Kleinstadt entlangging. Auf zweien war sie im Bikini an einem Gewässer abgebildet. In beiden Fällen bückte sie sich, und die Kamera war auf ihren Busenansatz gerichtet. Sachs berichtete Rhyme von ihrem Fund.
»Sein Traummädchen« , murmelte Rhyme.
»Mach weiter.«
»Meiner Meinung nach sollten wir das hier eintüten und uns den eigentlichen Tatort vornehmen.«
»In ein, zwei Minuten, Sachs. Denk dran - es war deine Idee, hier den guten Samariter zu spielen, nicht meine.«
Sie zitterte vor Wut.
»Was willst du denn noch?« , fragte sie hitzig.
»Soll ich alles einstäuben und nach Fingerabdrücken absuchen? Sämtliche Haare aufsaugen?«
»Natürlich nicht. Wir sind ja nicht auf Beweise für die Staatsanwaltschaft aus - das weißt du sehr wohl. Wir brauchen lediglich etwas, was uns einen Hinweis darauf gibt, wohin er die Mädchen gebracht haben könnte. Er wird sie nicht nach Hause zurückbringen. Er hat irgendwo ein Lager, das er für sie gebaut hat. Und dort war er auch vorher schon - um alles vorzubereiten. Das hier riecht nach einem sehr systematischen Straftäter, so jung und schrullig er auch sein mag. Und wenn die Mädchen tot sein sollten, hat er garantiert hübsche Gräber für sie ausgesucht.«
Trotz der langen Zeit, die sie schon zusammenarbeiteten, hatte Sachs nach wie vor ihre liebe Not mit Rhymes Kaltschnäuzigkeit. Sie wusste, dass dies zum Dasein eines Ermittlers gehörte - man muss Abstand wahren, damit einem das ganze Grauen eines Verbrechens nicht zu nahe geht -, aber sie tat sich schwer damit. Vielleicht deshalb, weil sie erkannt hatte, dass auch sie zu dieser kühlen Haltung fähig war, dieser dumpfen Teilnahmslosigkeit, auf die ein wahrhaft guter Kriminalist beim Untersuchen eines Tatorts wie auf Knopfdruck umschalten muss, einer Distanziertheit, die, wie Sachs manchmal befürchtete, ihre Gefühle eines Tages endgültig abtöten könnten. Hübsche Gräber... Lincoln Rhyme, der immer einen ganz besonders verführerischen Tonfall anschlug, wenn er sich einen Tatort vorstellte, meldete sich wieder bei ihr.
»Nur zu, Sachs, versetz dich in ihn hinein. Werde zu Garrett Hanion. Was denkst du? Wie sieht dein Leben aus? Was machst du in jeder einzelnen Minute, die du in dem kleinen Zimmer zubringst? Was sind deine allergeheimsten Gedanken?«
Die besten Kriminalisten, hatte Rhyme sie gelehrt, waren wie begabte Romanciers, die sich in ihre Figuren hineinversetzen und in einer fremden Welt aufgehen konnten. Einmal mehr sah sie sich in dem Zimmer um. Ich bin sechzehn. Ich bin ein schwieriger Junge, ein Waisenkind, die Jungs in der Schule hacken auf mir herum, ich bin sechzehn, ich bin sechzehn, ich bin Ein Gedanke kam ihr. Sie sprach ihn aus, ehe er ihr wieder entfiel.
»Rhyme, weißt du, was komisch ist?«
»Erzähl's mir, Sachs« , sagte er leise, ermutigend.
»Er ist ein Teenager, stimmt's? Na
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