Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
Abzug, genau auf Druckpunkt, richtete sie die Waffe mit ruhiger Hand auf die Gestalt unmittelbar vor ihr.
»Sachs?« , rief Rhyme.
»Was ist los?«
»Moment«
, flüsterte sie und schaltete die Deckenlampe ein. Der Lauf der Waffe zielte auf ein Poster mit dem Monster aus dem Film Alien. Mit der linken Hand riss sie die Kleiderschranktür auf. Leer.
»Alles klar, Rhyme. MUSS allerdings gestehen, dass mir sein Wandschmuck ganz und gar nicht gefällt.«
Erst dann nahm sie den Gestank wahr. Ungewaschene Kleidung, Körpergeruch. Und irgendetwas anderes...
»Puh« , murmelte sie.
»Sachs? Was ist los?«
Rhyme klang ungeduldig.
»Hier stinkt's.«
»Gut. Du kennst meine Regel.«
»Zuerst immer auf den Geruch am Tatort achten. Ich wünschte, ich hätt's nicht getan.«
»Ich wollte noch aufräumen.«
Mrs. Babbage war hinter Sachs hereingetappt.
»Hätte ich machen sollen, bevor Sie hergekommen sind. Aber ich hab mich gefürchtet reinzugehn. Außerdem kriegt man Stinktier schwer raus, es sei denn, man wäscht das Zeug in Tomatensaft. Hal hält das aber für reine Geldverschwendung.«
Das war es also. Dieser Geruch nach verbranntem Gummi, der die Ausdünstungen der Schmutzwäsche überlagerte, das war Stinktiersekret. Garretts Mutter stand mit krampfhaft gefalteten Händen da und sah aus, als wollte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
»Der ist bestimmt stocksauer, dass Sie die Tür aufgebrochen haben« , flüsterte sie.
»Ich muss mich hier ein bisschen allein umsehen« , sagte Sachs zu ihr. Sie komplimentierte die Frau hinaus und schloss die Tür.
»Die Zeit verrinnt, Sachs« , blaffte Rhyme.
»Bin ja schon dabei« , erwiderte sie und blickte sich um. Angewidert von dem grauen, fleckigen Laken, den Bergen schmutziger Kleidung, den mit Speiseresten verklebten Geschirrstapeln, den Zellophantüten mit den letzten zerkrümelten Überresten alter Kartoffel-und Tortillachips. Die ganze Bude hier machte sie kribblig. Sie stellte fest, dass sie die Finger in die Kopfhaut gegraben hatte und sich zwanghaft kratzte. Hörte auf, kratzte dann weiter. Sie fragte sich, weshalb sie so wütend war. Vielleicht, weil diese Schlamperei hier darauf hindeutete, dass sich die Pflegeeltern genau genommen einen Dreck aus dem Jungen gemacht hatten und diese Verwahrlosung dazu beigetragen hatte, dass er zum Killer und Kidnapper geworden war. Sachs sah sich rasch im Zimmer um und bemerkte etliche Schmutzstreifen sowie Finger-und Fußabdrücke am Fensterbrett. Allem Anschein nach war er öfter durchs Fenster ein-und ausgegangen als durch die Tür. Wurden die Kinder etwa über Nacht eingesperrt? Sie wandte sich der Wand zu, die dem Bett gegenüber lag, und kniff die Augen zusammen. Sie spürte, wie ein Schauder sie überlief.
»Wir haben's hier mit einem Sammler zu tun, Rhyme.«
Sie betrachtete die großen Glasgefäße - gut ein Dutzend Terrarien, an deren Boden Wasserpfützen standen, um die sich dicht an dicht Insekten tummelten. Auf den schlampig beschrifteten Etiketten war die jeweilige Art angegeben: Rückenschwimmer... Silberspinne. Auf einem Tisch in der Nähe lag eine angeschlagene Lupe. Daneben stand ein alter Bürostuhl, der aussah, als hätte ihn der Junge vom Sperrmüll geholt.
»Ich weiß, warum er Insektensammler genannt wird«
, sagte Sachs. Dann berichtete sie ihm von den Gefäßen. Sie schauderte vor Ekel, als eine Horde kleiner feuchter Käfer über die Wand des einen Glases wimmelte.
»Ah, das ist gut für uns.«
»Wieso?«
»Weil das ein seltenes Hobby ist. Wenn er auf Tennis oder Münzensammeln stünde, wäre es weitaus schwerer, seinen Aufenthaltsort festzustellen. Nun nehmen wir uns die Örtlichkeit vor.«
Er sprach mit schmeichelndem Tonfall, klang geradezu fröhlich. Sie wusste, dass er sich vorstellte, er persönlich schreite den Bereich ab - wie er das Untersuchen eines schachbrettartig in einzelne Sektoren unterteilten Tatorts bezeichnete und bediente sich dabei ihrer Augen und Beine. Als Leiter der IRD - der für Tatortarbeit und forensische Untersuchungen zuständigen Abteilung der New Yorker Polizei - hatte Lincoln Rhyme bei Tötungsdelikten häufig höchstpersönlich die Ermittlungen am Tatort übernommen und dabei für gewöhnlich mehr Dienststunden geleistet als weitaus jüngere Kollegen. Sie wusste, dass ihm das Abschreiten eines Tatorts mehr als alles andere fehlte, auf das er seit dem Unfall verzichten musste.
»Wie sieht der Tatortkoffer aus?« , fragte
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