Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
Sie stellen das vollkommen falsch an.« Rhyme bemerkte, dass Ben Davetts Vortrag mit betretener Miene verfolgte. Der Student war natürlich der Meinung, dass man mit Samthandschuhen vorgehen müsse, wenn man schon mit einem Krüppel stritt. Rhyme indessen blieb ruhig.
»Eine große Menschenjagd könnte Garrett dazu veranlassen, dass er Lydia umbringt und dann untertaucht.«
»Nein«, versetzte Davett mit Nachdruck,
»er kriegt Angst und lässt sie laufen. Bei mir in der Fabrik sind derzeit fünfundvierzig Leute auf Schicht. Na ja, ein Dutzend Frauen sind darunter. Die können wir nicht einspannen. Aber die Männer... Lassen Sie mich machen. Wir besorgen uns ein paar Schusswaffen. Suchen die Gegend um den Stone Creek ab.« Rhyme konnte sich lebhaft vorstellen, was dreißig oder vierzig Amateurkopfgeldjäger bei einer solchen Suchaktion anrichten würden. Er schüttelte den Kopf.
»Nein, wir machen weiter wie gehabt.« Sie gingen auf Blickkontakt, und einen Moment lang herrschte drückende Stille. Davett zuckte die Achseln und wandte zuerst den Blick ab, aber nicht etwa, weil er einsah, dass Rhyme Recht haben könnte. Ganz im Gegenteil es war ein entschiedener Protest, eine Warnung, dass Rhyme und Bell auf eigene Gefahr handelten, wenn sie seinen Rat missachteten.
»Henry«, sagte Bell,
»ich hab zugestimmt, dass Mr. Rhyme die Sache leitet. Wir sind ihm ziemlich dankbar.« Die Bemerkung des Sheriffs war zumindest teilweise an Rhyme persönlich gerichtet - eine indirekte Entschuldigung für Davetts Verhalten. Rhyme hingegen war begeistert ob der unverblümten Art, mit der ihm Davett begegnete. Es war ein erschreckendes Eingeständnis, aber Rhyme, der normalerweise überhaupt nicht an Vorzeichen glaubte, hatte das Gefühl, dass der Auftritt dieses Mannes eine Art Omen war - dass die Operation gut verlaufen und sich sein Zustand etwas bessern würde. Dieses Gefühl rührte von der kleinen Konfrontation, die sich soeben zugetragen hatte - bei der ihm dieser ausgebuffte Geschäftsmann in die Augen geschaut und ihm gesagt hatte, dass er einen schweren Fehler beging. Davett hatte Rhymes Zustand gar nicht bemerkt - er nahm lediglich Rhy-mes Verhalten wahr, seine Entscheidung, seine Einstellung. Sein lädierter Leib war für Davett nicht von Belang. Dr. Weavers Zauberhände würden ihn einen Schritt weiterbringen, sodass ihn mehr Menschen auf diese Art und Weise behandeln würden.
»Ich bete für die beiden Mädels«, sagte Davett. Dann wandte er sich an Rhyme.
»Und für Sie bete ich auch, Sir.« Er ließ den Blick eine Idee länger auf ihm ruhen, als es bei einem Abschied üblich war, und Rhyme spürte, dass dieses letzte Versprechen ernst gemeint war - und wörtlich. Dann ging der Geschäftsmann hinaus.
»Henry ist 'n bisschen rechthaberisch«, sagte Bell, als Davett weg war.
»Und er vertritt hier seine eigenen Belange, stimmt's?«, fragte Rhyme.
»Das Mädchen, das letztes Jahr durch die Hornissen umkam, Meg Blanchard...« Hundertsiebenunddreißig Mal ist sie gestochen worden. Rhyme nickte.
»Sie hat in Henrys Firma gearbeitet«, fuhr Bell fort.
»Ging in dieselbe Kirche, der er und seine Familie angehören. Er ist nicht anders als die meisten Leute hier - glaubt, die Stadt war ohne Garrett Hanion besser dran. Er meint bloß oft, dass seine Handlungsweise die einzig richtige ist.« Kirche... Gebet... Mit einem Mal wurde Rhyme etwas klar.
»Davetts Krawattenklammer«, sagte er zu Bell.
»Steht das J für Jesus?« Bell lachte.
»Genau. Oh, Henry kann einen Konkurrenten aus dem Geschäft drängen, ohne mit der Wimper zu zucken, aber er ist Laienprediger. Geht ungefähr dreimal die Woche in die Kirche. Das ist einer der Gründe, weshalb er eine Armee hinter Garrett herschicken will - weil er denkt, der Junge war ein Heide.« Rhyme kam immer noch nicht darauf, was die übrigen Initialen bedeuteten.
»Ich geb's auf. Was ist mit den anderen Buchstaben?«
»Das heißt: >Was sagt Jesus dazu?< Das fragen sich alle guten Christen hier in der Gegend, wenn sie vor einer schweren Entscheidung stehen. Ich für meinen Teil hab keine Ahnung, was er in so einem Fall sagen würde. Aber ich sag Ihnen, was ich machen würde: Lucy und Ihre Freundin anrufen und sie auf Garretts Fährte setzen.«
»Stone Creek?«, sagte Jesse Corn, nachdem Sachs Rhymes Nachricht an den Suchtrupp weitergeleitet hatte. Der Deputy deutete nach vorn.
»Eine Meile in die Richtung.« Er marschierte durch das Unterholz, gefolgt von Lucy und Ame-lia.
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