Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
Ausweg aus der Hütte zu suchen. Doch dort gab es keine Tür - nur dutzende alter Kartons, Gläser und Tüten. Sie hatte nicht gehört, wie Garrett zurückkehrte, und plötzlich war er die Treppe heruntergestürmt und auf sie zugekommen. Sie hatte geschrien und zu fliehen versucht, und danach konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie am blanken Boden gelegen, Blut war auf ihre Brust getropft und hatte ihre Haare verklebt, und Garrett, der nach ungewaschenem Halbwüchsigen roch, war langsam auf sie zugekommen, hatte die Arme um sie geschlungen und wie gebannt auf ihre Brüste geblickt. Er hatte sie aufgehoben, und sie hatte seinen steifen Penis gespürt, als er sie behutsam die Treppe hinaufgetragen hatte, ohne sich um ihre Einwände zu kümmern... Nein!, sagte sie sich jetzt. Denk nicht daran. Auch nicht an den Schmerz. Oder die Angst. Und wo war Garrett jetzt? So sehr sie sich gestern auch vor ihm gegraut hatte, als er in der Hütte herumgetappt war - jetzt hatte sie fast genauso viel Angst davor, dass er sie vergessen haben könnte. Beziehungsweise bei einem Unfall umkommen oder von den Deputys, die nach ihr suchten, erschossen werden könnte. Dann würde sie hier verdursten. Mary Beth McConnell musste an ein Projekt denken, an dem sie und ihr Tutor teilgenommen hatten: die Öffnung eines Grabes aus dem 19. Jahrhundert, finanziert von der North Carolina State His-tory Society, weil man anhand eines DNA-Tests feststellen wollte, ob es sich bei dem darin liegenden Leichnam um einen Nachkommen von Sir Francis Drake handelte, wie eine hiesige Legende behauptete. Als der Sargdeckel abgenommen worden war, hatten sie zu ihrem Entsetzen festgestellt, dass die knöchernen Arme des Toten nach oben gestreckt waren und sich Kratzspuren an der Unterseite des Deckels befanden. Der Mann war lebendig begraben worden. Diese Hütte würde ihr Sarg sein. Und niemand -Was war das? Sie schaute aus dem vorderen Fenster und meinte am fernen Waldrand eine Bewegung gesehen zu haben. Es könnte ein Mann sein, so weit sie das durch das Gestrüpp und die Blätter erkennen konnte. Da er allem Anschein nach dunkle Kleidung und einen breitkrempigen Hut trug, aber auch wegen seiner selbst-bewussten Haltung und Gangart, dachte sie: Er sieht aus wie ein Missionar in der Wildnis. Aber Moment mal... War dort wirklich jemand? Oder narrte sie nur das Sonnenlicht auf den Bäumen? Sie wusste es nicht genau.
»Hier!«, schrie sie. Doch das Fenster war zugenagelt, und selbst wenn es offen gewesen wäre, hätte er sie aus dieser Entfernung vermutlich nicht hören können, denn ihr Hals war so trocken, dass sie nur einen kläglichen Laut hervorbrachte. Sie nahm sich ihren Rucksack vor, hoffte, dass die Pfeife noch drin war, die ihre überängstliche Mutter ihr zum eigenen Schutz gekauft hatte. Mary Beth hatte sich darüber lustig gemacht - eine Trillerpfeife zum Abschrecken von Sittenstrolchen, und das in Tanner's Corner? -, doch jetzt suchte sie verzweifelt danach. Aber die Pfeife war weg. Vielleicht hatte Garrett sie gefunden und an sich genommen, als sie auf der blutigen Matratze die Besinnung verloren hatte. Na ja, sie musste trotzdem um Hilfe schreien - so laut sie nur konnte, trotz ihrer ausgedörrten Kehle. Mary Beth ergriff eine der Insektenflaschen und wollte sie durchs Fenster werfen. Sie holte weit aus, wie ein Handballer, der in der letzten Minute zum alles entscheidenden Siebenmeter antritt. Dann senkte sie die Hand. Nein! Der Missionar war weg. Dort, wo er gewesen war, standen nur ein dunkler Weidenstamm, Gras und ein Lorbeerbaum, der sich im heißen Wind wiegte. Vielleicht war das alles, was sie gesehen hatte. Vielleicht war da überhaupt niemand gewesen. Mary Beth - verängstigt, wie sie war, von Durst und Hitze geplagt – vermochte kaum noch zwischen Wirklichkeit und Einbildung zu unterscheiden, und all die schaurigen Sagen, die sie über diesen Landstrich von North Carolina gelesen hatte, kamen ihr immer glaubwürdiger vor. Vielleicht war der Missionar nur eine dieser Fantasiegestalten, so wie die Frau vom Drummond Lake. Wie die anderen Geister des Great Dismal Swamp. Wie die weiße Hindin aus der indianischen Sage - eine Geschichte, die ihr auf geradezu unheimliche Art immer vertrauter vorkam. Von bohrenden Kopfschmerzen gequält, benommen von der Hitze, legte sich Mary Beth auf das muffige Sofa und schloss die Augen. Ab und zu warf sie einen Blick zu den Hornissen, sah, wie sie anschwebten
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