Jene Nacht im Fruehling
die Frau, die da eben für ihn gesungen hatte, war vermutlich in erotischen Dingen viel erfahrener als er. Es war dieser Typ von Frau, der ihm einen Orgasmus vortäuschen würde, der Liebe für einen Mann heucheln konnte. Sie war der absolute Gegenpol zu Samantha - zu deren Offenheit, Liebenswürdigkeit und Bereitschaft, zu geben, ja, sich zu verschenken.
»Nun?« sagte Samantha da hinter ihm.
Als er sich umdrehte, war sie wieder Samantha mit einem sauber glänzenden Gesicht und ein wenig wirr um den Kopf stehendem Haar, den niedlichen kleinen Körper unter seinem Morgenmantel versteckt. Einem Impuls folgend, ging er zu ihr, schlang die Arme um sie und gab ihr einen herzhaften Kuß auf den Mund. Keinen leidenschaftlichen oder verlangenden Kuß, sondern einen Kuß der Erleichterung, als würde er sie zu Hause willkommen heißen.
»Mike?« fragte sie, »fehlt dir etwas?«
Er hielt sie so fest an sich gedrückt, daß sie kaum Luft bekam, und es dauerte eine Weile, bis er sich soweit erholt hatte, daß er wieder sprechen konnte. Mit einem Lachen, das selbst ihm erzwungen erschien, sagte er: »Du bringst mich noch soweit, daß ich an eine Persönlichkeitsspaltung glaube.« Sie dann von sich weghaltend, daß er ihr Gesicht betrachten konnte, blickte er sie forschend an und fragte: »Ich sollte eher dich fragen, ob dir etwas fehlt. Du warst so .. . anders. Du warst. . .«
» . . . Maxie«, sagte sie. »Ich zog dieses Kleid an und schien mich in diesem Moment in Maxie zu verwandeln. Habe ich ihre Rolle gut gespielt?«
Er zog ihren Kopf an seine Schulter hinunter. »Zu gut. Viel, viel zu gut.«
»Mike - habe ich etwas falsch gemacht? Ich habe doch nur ein Lied gesungen und dabei ein bißchen - nun - den Vamp herausgestrichen.«
Er wollte seinen festen Griff um sie nicht lockern. »Es war mehr als das. Du hast dich verwandelt - richtiggehend verwandelt.«
»Ein bißchen Verwandlung kann doch nicht schaden.«
Er küßte sie wieder auf den Mund und brachte sie so zum Schweigen. »Sammy, ich möchte nicht, daß du dich verwandelst. Ich mag dich so, wie du bist.«
Während sie sich an ihn schmiegte, war sie sich gar nicht sicher, was ihn denn so an ihr aufgeregt haben könnte. Aber es gefiel ihr, daß er so sehr um sie besorgt war. Und ihr gefiel sein Kompliment. »Mike«, sagte sie leise, »ich mag dich auch.« Erst später erkannte sie das wahre Ausmaß seiner Verstörung, denn als sie zu Bett gingen, versuchte er zum erstenmal nicht, sie dazu zu überreden, die Nacht mit ihm zu verbringen. Und sie mußte lächeln über seine Scheu, es diesmal zu versuchen, als sie sich im Spiegel über der Kommode betrachtete. Vielleicht sollte sie öfters in Maxies Haut schlüpfen. Vielleicht sollte sie nicht eine so berechenbare, so langweilige Frau sein - eine Frau bar aller Überraschungen. Lächelnd strich sie mit der Hand über Maxies Kleid hin, das sie über eine Stuhllehne gehängt hatte, und dann, einem Impuls folgend, zog sie eine Schublade in Mikes Kommode auf, in der sie ihr neues durchscheinendes, weißes Nachthemd versteckt hatte, holte es heraus und zog es an. Maxie würde ein weißes Nachthemd getragen haben, wenn und wann immer sie wollte. Ob es nun weiß war oder schwarz, durchscheinend oder mit Spitzen besetzt, aus Seide oder Baumwolle, hochgeschlossen oder so winzig, daß man mehr Haut als Stoff sah - Maxie würde jedes Nachthemd der Welt getragen haben, wenn sie das wollte.
21
Um fünf Minuten vor neun am Sonntagmorgen saß Samantha in ihrem neuen weißen Nachthemd mit angezogenen Knien in Mikes Bett und versuchte, sich zu pediküren. Die Tatsache, daß die Geräte, die sie dafür benutzte, sich seit ihrem zehnten Lebensjahr in ihrem Besitz befanden - in einem pinkfarbenem Plastik-Necessaire, auf dem sich kleine weiße Pudel mit blauen Schleifen an den Schwänzen tummelten erleichterte ihr diese Aufgabe keineswegs. Sie hatte bisher noch keinen Ton aus dem Nachbarzimmer vernommen, und deshalb nahm sie an, daß Mike noch schlief.
Um neun Uhr nahm sie die Fernbedienung vom Nachttisch und schaltete das Fernsehgerät in der Ecke des Zimmers ein, um sich Charles Kuralts »Sunday Morning«-Sendung anzuschauen. Sie hatte Mr. Kuralts Sendung seit dem Tag an verfolgt, als man ihn von der Straße weggeholt und in ein Fernsehstudio in New York verpflanzt hatte. Es interessierte Samantha nämlich, ob er jemals diesen melancholischen Zug um den Mund verlieren würde, der besagte, daß er lieber auf der Straße geblieben
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