Jene Nacht im Fruehling
wäre.
In den ersten Minuten der Show gab Charles einen kurzen Überblick, was den Zuschauer in dieser Sendung erwarten würde, wobei er jede Story in dem ihm eigenen »Können-Sie-so-etwas-glauben?«-Ton ankündigte, dem er seine Beförderung zum Fernseh-Moderator verdankte. Samantha achtete zunächst nicht sonderlich auf das, was er den Zuschauern zu erzählen wußte, aber als sie den Namen Jubilee hörte, ging ihr Kopf mit einem Ruck in die Höhe, und von diesem Moment an hing sie mit geweiteten Augen an seinen Lippen.
»Das Jubilee-Massaker ist nicht so bekannt wie das St.-Valentins-Tag-Massaker, aber den hohen Popularitätsgrad, den die Ereignisse in Chikago in der Prohibitionszeit hatten, konnte New York damals nie erreichen. Vielleicht lag das auch an dem Zynismus der New-Yorker; denn was sich an jenem schwülen Samstagabend des zwölften Mai neunzehnhundertachtundzwanzig in dieser Stadt ereignete, wurde von den New Yorker Reportern nicht einmal als Massaker gewürdigt. Einer ihrer geistreichen - oder sagen wir besser geschmacklosen - Vertreter bezeichnete das Blutbad als Wachablösung, weil der Boß einer Gangsterbande die Gangster eines Mannes umbrachte, der an dessen Stelle treten sollte. Denn das Massaker, um es beim richtigen Namen zu nennen, war ein Schuß, der nach hinten losgehen sollte, weil die Sympathie der Leute -der korrupten Elemente der Polizei, Behörden und was noch so alles zur öffentlichen Meinung gehörte - sich dem Mann zuwandte, auf den man geschossen hatte. Doc Barrett, damals ein achtundzwanzig Jahre alter Ganove minderen Ranges, übernahm nach dieser Nacht, in der siebzehn Menschen im Kugelhagel der Gangster starben und ein Dutzend weitere schwer verwundet wurden, die Kontrolle über alle illegalen Alkohol-Geschäfte in der Metropole. Doc ging also als Sieger aus diesem Blutbad hervor, verlor dabei aber auch seinen besten Freund oder den einzigen Mann, dem er, wie er sagte, jemals vertraute oder vertrauen würde -einen Mann mit dem pittoresken Namen Half Hand Joe; ihm war die linke Hand zur Hälfte weggeschossen worden, als er sich als Junge schützend vor seinen noch jüngeren Freund Barrett stellte.
Das alles passierte in einem während der Prohibitionszeit sehr eleganten Nachtklub in Harlem, der damals unter dem schlichten Namen Jubilees Bar bekannt war. Doc Barrett mag zwar aus dieser Nacht als Gewinner hervorgegangen sein, aber Jubilee verlor in wenigen Stunden alles, was er besaß. Sein Klub wurde von mehr als dreitausend Maschinengewehrkugeln zersiebt und in den darauffolgenden drei Tagen von ein paar tausend Souvenirjägern ausgeplündert.«
Während Mr. Kuralt referierte, zeigte die Kamera Bilder
von der Außenseite und den Innenräumen eines baufälli-gen alten Gebäudes in einer schrecklichen Gegend von Harlem. Ratten huschten über den Boden, als die Kamera die Kugellöcher in den Wänden näher heranholte.
»Jubilee ist immer noch Inhaber dieses Klubs«, fuhr Charles Kuralt fort, »aber in Anbetracht der Werte, die Immobilien heute in dieser Gegend haben, konnte er ihn weder verkaufen noch verpachten, und deshalb steht das Lokal heute leer.«
Charles Kuralt legte sein Manuskript beiseite und setzte sein Mona-Lisa-Lächeln auf.
»Manche behaupten sogar, es wäre verhext. Aber wir sind heute nicht hierhergekommen, um über ein Massaker - selbst ein Massaker dieses Ausmaßes - zu reden, das hier vor dreiundsechzig Jahren passierte. Wir sind hierhergekommen, um mit Jubilee Johnson über seine Musik zu plaudern. Denn das Massaker konnte zwar seinen materiellen Besitz zerstören, ihm aber nicht seine Musik und seine Vitalität nehmen. Inzwischen ist er einhundertundeins Jahre alt, und er spielt, singt - und jubiliert noch immer.«
Da sprang Samantha vom Bett herunter, rannte in das Badezimmer und riß dort die Verbindungstür zum Gästezimmer auf, wo Mike bäuchlings im Bett unter einer Steppdecke und ungefähr sechs dicken, mit Daunen gefüllten Kopfkissen begraben lag. »Mike, wach auf! Du mußt dir ansehen, was sie gerade im Fernsehen zeigen.« Da er sich nicht bewegte, kniete sie neben dem Bett nieder und berührte alles an ihm, was sie sehen konnte, und das war ungefähr ein Quadratzentimeter nackter Schulter und eine schwarze Haarsträhne.
»Michael, wach auf! Du versäumst es sonst!« Er bewegte nicht einen Muskel. Wenn er sich nicht so warm angefühlt hätte, hätte sie glauben können, er wäre tot. Sie stieg auf sein Bett, faßte ihn an der Schulter und
Weitere Kostenlose Bücher