Jene Nacht im Fruehling
wollte das nicht in Worte fassen. »Ich bringe dich zu Blair und lasse dich über Nacht bei ihr. Ich muß heute abend noch einmal weg, und deshalb kannst du nicht ins Haus zurückkehren.«
Sie konnte nur nicken - so froh war sie, daß er sie wieder anschaute.
Im Taxi war er dann die ganze Fahrt über stumm, während sie sich so sehr wünschte, daß er ihr sagte, was ihn bedrückte. Sie konnte ihn noch so sehr mit Fragen bestürmen - er wollte ihr keine Antwort darauf geben. Er hatte es so eilig, sie wieder loszuwerden, daß er sie vor Blairs Apartmenthaus einfach absetzte und nur so lange wartete, bis der Portier sie dort in Empfang genommen hatte.
»Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink gebrauchen«, sagte Blair, als Samantha in ihre kleine, hübsche, modern möblierte Wohnung kam. »Haben Sie und Mike sich gestritten?«
»Ich ... ich glaube, ja«, stotterte Samantha, als sie auf der Couch Platz nahm. »Aber - nein, eigentlich nicht.« Als sie Blair jetzt anschaute, war ihr deutlich anzusehen, wie verstört sie war. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Mike ist mir böse, aber ich habe keine Ahnung, warum.«
»Sex«, sagte Blair rasch. »In diesem frühen Stadium einer zwischenmenschlichen Beziehung ist es immer der Sex bei den Männern. Sie können an nichts anderes denken.«
Samantha nahm das Glas mit dem Gin Tonic entgegen, das Blair ihr reichte, und schnitt eine Grimasse. »Sex kann es nicht sein, weil es den gar nicht gibt.«
Einen Moment lang begriff Blair nicht, was Samantha gesagt hatte, doch dann lachte sie laut. »Armer Mike! Ich wette, das ist für ihn eine Überraschung. Ich bezweifle, daß ihm seit seinem sechzehnten Lebensjahr eine Frau, die er haben wollte, länger als vierundzwanzig Stunden widerstanden hat, bevor sie mit ihm ins Bett gefallen ist -wobei ich auch Schülerinnen der Oberstufe zu den Frauen zähle.«
»Wenn ich mit ihm ins Bett ginge, würde er mich nie mehr anschauen«, erwiderte Samantha gequält.
Blair war zwar Ärztin für Allgemeinmedizin, aber nun kamen ihr ihre Erfahrungen als Frau besser zustatten. Sie konnte sehen, daß mit Samantha etwas nicht stimmte. Aus der Entfernung betrachtet, hätte Blair sich wundem müssen, wenn Samantha und Mike nicht jede Minute des Tages zusammen im Bett verbrachten, weil sie noch nie zwei so ineinander vernarrte Menschen gesehen hatte wie diese beiden. Wenn man die zwei zusammen erlebte, konnte es einem geistig halbwegs gesunden Individuum ganz übel werden. Sie fanden jeden lahmen Witz, den der andere erzählte, unglaublich komisch, und wurden ganz nervös, falls der andere mal für fünf Minuten den Raum verließ, und erfanden dann irgendwelche Ausreden, um ihm nachzugehen. Und sie sahen sich mit so großen, feuchten Augen an, daß ein Cockerspaniel sich im Vergleich dazu wie eine wilde Bestie Vorkommen mußte.
Soweit Blair das beurteilen konnte, waren die beiden, seit Samantha in Mikes Haus wohnte, nie weiter als fünf Meter voneinander getrennt gewesen, ausgenommen jener Tag, an dem Raine mit Samantha einen Spaziergang gemacht hatte, Mike den beiden heimlich gefolgt war und ein wildfremder Passant ihm dann einen Stein an den Kopf geworfen hatte - eine Geschichte, die Blair Mike nicht eine Sekunde lang geglaubt hatte.
Und gestern abend war Raine, nachdem er für die beiden, die einen Besuch bei Samanthas Großmutter machen wollten, den Chauffeur gespielt hatte, noch auf einen Sprung bei ihr vorbeigekommen und hatte sich königlich darüber amüsiert, wie vernarrt sein Vetter in seine Untermieterin sei. Mike habe, wie er ihr erzählte, so ausgesehen, als würde er durch brennende Reifen springen oder barfuß über glühende Kohlen gehen, wenn Samantha das von ihm verlangte oder er glaubte, ihr damit imponieren zu können. »Ich hoffe und bete, daß es mich niemals so schlimm erwischen möge wie Mike«, hatte Raine gesagt. »Ich bin überzeugt, daß Mike mit einer Schrotflinte auf mich losgegangen wäre, wenn ich es auch nur gewagt hätte, den Saum ihres Kleides anzufassen - was ich in Anbetracht der Beine, die sich darunter versteckten, sicherlich gern getan hätte. Ich beneide ihn fast um seine Nächte.«
Und nun hörte Blair von Samantha, daß sie und Mike noch nie miteinander geschlafen hatten. Es war fast so, als hätten Romeo und Julia ihre Liebe füreinander nur vorgetäuscht.
»Was hat Mike denn heute abend vor?« fragte Blair.
»Offenbar hat er sich mit jemandem verabredet, der ihm Informationen über die
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