Jene Nacht im Fruehling
Ich will keinen Menschen, den ich liebe, mehr sterben sehen.«
Er hob ihr Kinn und sah sie an, als wollte er sie fragen, was er ihr denn noch geben könne. Und als wüßte er die Antwort, öffnete er die Arme für sie, nicht aus Verlangen nach ihr, sondern in dem Bedürfnis, sie zu trösten und ihr beizustehen - vielleicht auch aus Liebe.
Ohne erst nachzudenken, glitt sie auf seinen Schoß und schmiegte sich, die Knie an die Brust ziehend, an ihn, während seine starken Arme sich um sie legten, um ihr nicht nur ein Gefühl der Geborgenheit zu geben, sondern ihr auch bewußt zu machen, daß er voller Lebenskraft war. Sie konnte seinen Herzschlag unter ihrer Wange spüren, und als sie sich noch fester an ihn lehnte, meinte sie sogar das Blut in seinen Adern rauschen zu hören.
»Halt mich fest, Michael«, flüsterte sie. »Halt mich ganz fest. Laß mich deine Kraft spüren, deine ... Gesundheit.« Es war erschütternd, wie aufgewühlt sie war.
Er drückte sie so fest an sich, wie er konnte, ohne ihr weh zu tun. In Gedanken sah er, was sie jetzt vor sich sehen mußte; ihren Großvater, wie er langsam dahinsiechte; dann ihren Vater, der von der gleichen Krankheit dahingerafft wurde. Nun hatte sie ihren letzten Blutsverwandten auf dieser Erde wiedergefunden, der ebenso in ihren Armen sterben würde, wie früher ihr Großvater und ihr Vater. Mike spürte noch immer die welke, fast leblose Haut dieser Frau auf seinen Lippen, sah diese schon fast graue Blässe auf ihrer Stirn. Der Todesengel schwebte über Maxie, streckte bereits die Hand nach ihr aus, um sie von dieser Welt wegzuholen - und von Samantha.
Obwohl Michael Samantha ganz fest in seinen Armen hielt, begann sie zu zittern.
»Sam!« rief Mike erschrocken, aber seine Stimme hatte keine Wirkung auf sie. Ihr Zittern nahm an Stärke zu, und deshalb nahm er seine Hand und hielt sie ihr vors Gesicht. »Schau meine Hand an. Hörst du? Schau sie dir an!«
Langsam hob sie den Kopf. Sie zitterte jetzt so heftig, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen. Sie wußte nicht, was Mike mit seiner Aufforderung bezweckte, als sie gehorsam auf seine Hand sah.
»Da«, sagte er, ihr seine Hand ganz dicht vor das Gesicht haltend, »siehst du, wie kräftig und gesund sie ist? Und wie lebendig?«
Seine Hand war kräftig. Es war eine junge, durch jahrelanges Training sehr starke Hand. Zu Mikes Verwunderung drückte sie nun das Gesicht dagegen, berührte die Innenfläche mit den Lippen und atmete ganz tief, als gäbe ihr erst der Geruch dieser Hand die Gewißheit, daß sie tatsächlich lebendig war und es auch bleiben würde. Dann drehte sie das Gesicht zur Seite, schmiegte ihre Wange in seine Hand, schloß die Augen und lehnte ihren Kopf an seine Brust, seinem Herzschlag lauschend, während Mike sie still in seinen Armen hielt.
Als er ihren Rücken zu streicheln begann, wünschte er sich, daß er ihr helfen könnte - wünschte sich, daß er ihr einen Teil ihres Schmerzes abnehmen und aufhalten könnte, was, wie sie beide wußten, nicht aufzuhalten war.
Denn alles Geld und alle Liebe dieser Welt konnten den Tod eines Menschen nicht verhindern.
*
Als Samantha in seinen Armen eingeschlafen war, hielt Mike sie noch fest, um ihre Ruhe nicht zu stören und das Gefühl ihres warmen kleinen Körpers an seiner Brust zu genießen.
Manchmal, wenn er daran dachte, wie sehr er sie liebte, war ein fast körperlicher Schmerz in ihm. Er war an dem Punkt angelangt, wo er es kaum noch ertragen konnte, nicht ständig in ihrer Nähe zu sein, so als fürchtete er, es könnte ihm ein Lächeln, ein Stirnrunzeln von ihr entgehen. Er hätte unmöglich die Freude beschreiben können, die er empfand, als er sah, wie sie täglich mehr aufblühte und sich aus einem kleinen ängstlichen Mädchen in eine selbstbewußte Frau verwandelte, die Ornette zornig etwas durch ein offenes Fenster zurief. Und wie sehr er es genoß, ihr zuzuschauen, wenn sie anderen Menschen eine Freude machte - wie sie zum Beispiel Jubilee auf die Wange küßte, Daphne ihre Freundschaft anbot oder Maxie in ihre Arme nahm.
Doch zugleich erschreckte es ihn zutiefst, wenn sie sich nicht davon abbringen ließ, den Kontakt zu Bekannten aus Maxies jungen Jahren zu suchen, weil sie unbedingt wissen wollte, was damals passiert war. Nun wünschte er sich, daß er nie etwas von Doc oder Dave Elliot gehört hätte. Aber dann hätte er auch Samantha niemals kennengelernt.
Im Schlaf lag sie ganz entspannt in seinen Armen und hatte absolutes
Weitere Kostenlose Bücher