Jene Nacht im Fruehling
für den Tod ihrer Mutter verantwortlich gemacht hatte. Denn sonst hätte er sich doch nicht so von ihr abgekapselt, sein Kind nicht einmal ansehen, geschweige denn trösten wollen. Dieser egoistische Bastard! Mike verfluchte ihn im stillen. Er hatte nur an seinen Kummer gedacht und den seiner Tochter nicht wahrnehmen wollen.
Der Kummer über den Tod seiner Frau hatte damals auch Kane geschwächt, aber er hatte sich stets bemüht, für seine beiden Kinder dazusein, wenn sie ihn in der Nacht weckten und weinend nach ihrer Mami riefen.
Samantha hatte nicht geweint, und sie weinte auch jetzt nicht. Sie war blaß, kalt und so schwach, daß sie kaum die Hände bewegen konnte, aber ihre Augen blieben trocken. Weil sie sich schuldig fühlte am Tod ihrer Mutter und dem Kummer ihres Vaters, bestrafte sie sich damit, daß sie sich die Tränen versagte, die ihren Schmerz lindern konnten.
»Ich war ein schreckliches Kind«, sagte Sam an seiner Schulter. »Ich war egoistisch, und alles mußte nach meinem Kopf gehen. Als mir meine Mutter einmal ein Paar wunderschöne blaue Samtschuhe kaufte, wollte ich sie nicht einmal anziehen, weil ich mir rote Lacklederschuhe gewünscht hatte.«
»Was hat deine Mutter da gemacht?«
»Sie sagte zu mir, daß sie nicht noch einmal in die Stadt fahren würde, um mir ein anderes Paar Schuhe zu kaufen. Sie sagte, sie wolle keine Primadonna heranzüchten, und daß man im Leben nicht das Unmögliche verlangen dürfte, weil man sonst am Ende gar nichts bekommt.«
»Und hast du deine roten Schuhe dann doch bekommen?« fragte er leise, weil er diese Geschichte bereits haßte. Es war bereits die dritte in Folge, in der Samantha ein ganz normales kindliches, eigensüchtiges Verhalten zu einer sündhaften Boshaftigkeit aufblähte.
»Oh, ja. Am nächsten Tag sagte ich zu meiner Mutter, wie schön ihr Haar doch sei und was für herrliche blaue Augen sie hätte. Und wie sehr ich mich freute, daß sie nicht so alt aussähe wie die Mütter meiner Freundinnen, die ausnahmslos dick und häßlich seien. Und daß sie sich so schön anziehen sollte, wie sie aussähe. Da lächelte sie und fragte mich, woran ich denn denken würde, und ich erzählte ihr von einer Schaufensterpuppe in der Auslage von Stewarts Kaufhaus, die ein Kleid anhatte, das ihr großartig stehen müßte.«
»Und da ist sie mit dir in die Stadt gefahren?«
»Sie sagte, daß ich mit meiner wohl ehrlich gemeinten Schmeichelei und der Raffinesse, mit der ich versuchte, meinen Kopf durchzusetzen, eine Belohnung verdient hätte. Aber sie warnte mich auch, daß ich eine hinter die Ohren bekäme, wenn die Schaufensterpuppe mit dem Kleid, das ich ihr anpries, gar nicht in der Auslage stünde.«
»Vermutlich stand sie aber doch da.«
»Ich schwitzte auf der Fahrt in die Stadt Blut und Wasser. Ich befürchtete nämlich, daß sich im Schaufenster von Stewarts nur Herrenbekleidung befand, aber das Kaufhaus ließ mich nicht im Stich. Ich bekam meine roten Schuhe und Mama ein neues Kleid.« Samantha schwieg einen Moment. »Es war das Kleid, in dem sie beerdigt wurde.«
Und während Mike, ihr über das Haar streichend, sich die Geschichten aus ihrer Kindheit anhörte, wuchs mit jeder Story, die sie ihm berichtete, seine Überzeugung, daß hier etwas geschehen mußte. Blair hatte zu einer Therapie geraten. Doch wie sollte diese aussehen? Daß ihr ein Psychiater immer wieder versicherte, sie wäre nicht schuld am Tod ihrer Mutter und nicht verantwortlich für die Depressionen ihres Vaters? Es würde mehr brauchen als Worte, um Samantha den Glauben daran zu nehmen, daß sie schuld war an beidem.
Sie hatte in einer ihrer Geschichten erwähnt, daß ihr Vater eines Tages, als er aus dem Büro nach Hause kam, Richard Sims mitgebracht und ihr vorgestellt hatte. Mike mußte nur ein paar Fragen stellen, um herauszufinden, daß sie ihn vor allem deswegen geheiratet hatte, weil ihr
Vater das offenbar von ihr erwartete. War das verwunderlich? Von ihrem zwölften bis zu ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr hatte sie sich ausschließlich ihrem Vater gewidmet in dem Bemühen, das wieder gutzumachen, was sie ihm ihrer Meinung nach angetan hatte. Warum sollte sie dann nicht auch geheiratet haben, weil sie glaubte, ihm damit eine Freude machen zu können?
Der Anwalt ihres Vaters hatte gesagt, Sam habe sich in jener Zeit von der Außenwelt abgekapselt, weil sie nur für ihren Vater dasein und ihm in seiner Depression helfen wollte. Sam war in jenen Jahren so isoliert
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