Jene Nacht im Fruehling
eine gute Schauspielerin, das mußte er ihr lassen, und wenn er nicht gewußt hätte, was sie soeben erfahren hatte, wäre er niemals auf die Idee gekommen, daß sie litt. Aber er kannte Samantha inzwischen viel besser als noch vor wenigen Tagen - kannte sie sogar gut. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie ihren Kummer und ihren Schmerz vor anderen verstecken und allein damit fertig werden müssen.
»Du kommst jetzt mit mir«, sagte Mike.
»Nein, ich .. .« Sie versuchte, sich von ihm zu entfernen, aber er ließ ihren Arm nicht los und zog sie zu sich heran.
Dann pfiff er so laut und durchdringend, daß ein Taxi mit quietschenden Bremsen neben ihm am Randstein hielt. Mike öffnete die Wagentür und schob Sam auf den Rücksitz. Als sie mit ihm zu reden versuchte, sagte er, daß sie still sein sollte. Sie waren schon fast zu Hause, als Mike Samantha unter das Kinn faßte und ihr Gesicht ins Licht drehte: Sie war schneeweiß, ihre Haut fühlte sich feucht und kalt an, und sie atmete unregelmäßig.
Kaum hatte das Taxi vor dem Haus gehalten, als Mike dem Fahrer das Geld in die Hand drückte, den Wagenschlag öffnete, und Sam hinter sich herziehend, rannte er so schnell die Vortreppe hinauf, daß sie ihm kaum folgen konnte. Oben schob er rasch den Schlüssel ins Schloß, stieß die Haustür auf, warf sie hinter ihnen wieder zu und lief mit Sam ins Badezimmer.
Sie schafften es gerade noch, dann mußte Sam sich übergeben. Eine Hand auf ihrer Stirn, mit der anderen ihren Brustkorb umfassend, hielt er sie fest, während sie sich, von Magenkrämpfen geschüttelt, immer wieder erbrach, bis sie erschöpft über dem Toilettenbecken hing. Da tränkte Mike einen Waschlappen mit kaltem Wasser und drückte ihn ihr auf die Stirn, während er die Wasserspülung betätigte und den Deckel über dem Toilettenbecken schloß.
Er mußte ihr vom Boden aufhelfen, als sie sich hinsetzen wollte, während sie flüsterte: »Jetzt geht es mir wieder gut. Wirklich. Jetzt bin ich wieder okay.«
Er schüttelte den Kopf. »Du bist keineswegs okay«, sagte er, ließ sie einen Moment allein, ging in die Küche, goß Orangensaft in ein Glas und flößte ihn ihr schluckweise ein. »Und jetzt das«, sagte er, ihr ein Pfefferminz hinhaltend. Und als sie es nicht nehmen wollte, zwang er ihr die Kiefer auseinander und schob es ihr in den Mund.
Dann nahm er ihr den Waschlappen wieder von der Stirn, wrang ihn aus, tränkte ihn mit frischem kalten Wasser und wusch ihr damit das Gesicht ab. Was tat man sonst noch in so einer Situation? Wie konnte er Samantha helfen, den Schock zu überwinden, den diese schreckliche Nachricht bei ihr ausgelöst hatte? Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn jemand ihm gerade erzählt hatte, daß seine Muter von einem Verbrecher auf die vage Vermutung hin, daß sie vielleicht wußte, wo ein vor vielen Jahren verschwundenes Geld hingekommen sei, gefoltert und ermordet worden war.
»Wenn du krank warst als Kind«, sagte Mike, während er ihr sacht mit dem Waschlappen das heiße Gesicht abwischte, »wer hat sich da um dich gekümmert?«
»Meine Mutter«, flüsterte sie.
»Und nach deinem zwölften Lebensjahr?« fragte er und nahm einen Moment lang, auf ihre Antwort wartend, den Waschlappen von ihrem Gesicht.
Aber sie gab ihm keine Antwort auf diese Frage, sondern drehte das Gesicht zur Seite und sagte: »Ich würde mich jetzt gern hinlegen.«
»Du willst ins Bett gehen? Allein?«
»Mike, bitte. Ich möchte jetzt wirklich nicht...«
Er gestattete sich nicht, dem Ärger nachzugeben, der sich in ihm regte, weil sie offenbar annahm, er wollte in so einem Moment wie diesem mit ihr schlafen. Sich daran erinnernd, wie sie ihm erzählt hatte, daß sie damals, als sie die Nachricht von dem bevorstehenden Tod ihres Vaters erhielt, nach Hause gehen wollte, um bei ihrem Ehemann Trost zu suchen, streichelte er ihr die Wangen. Aber ihr Ehemann war nicht dagewesen, als sie ihn brauchte, und als sie nach dem Tod ihrer Mutter ihren Vater brauchte, hatte der sie ebenfalls im Stich gelassen. Es wurde Zeit, dachte Mike, daß ein Mann ihr auch einmal beistand, wenn sie in Not war. »Sam - Sam, ich werde dich jetzt nicht allein lassen. Dein Vater mag das getan haben, damit du erwachsen wirst, aber ich werde es nicht tun.« Damit hob er sie auf seine Arme und trug sie wie ein Kind aus dem Badezimmer.
»Laß mich los«, sagte sie, sich gegen ihn wehrend.
Da blieb er im Flur stehen und schaute auf sie hinunter. »Ich
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