Jene Nacht im Fruehling
gewesen, daß dem Anwalt sogar der Verdacht gekommen war, sie könnte das Opfer einer inzestuösen Beziehung geworden sein. Doch er hatte sich damit nicht befassen mögen und war deshalb auf Vermutungen angewiesen.
Sie war von ihrem zwölften Lebensjahr an immer allein gewesen. Sie hatte niemanden gehabt, an den sie sich wenden konnte, obwohl sie sich bemüht hatte, das beste kleine Mädchen der Welt zu sein, um mit ihrem Verhalten die Liebe ihres Vaters zurückzugewinnen. Und in diesem Bemühen hatte sie wohl auch den Mann geheiratet, den ihr Vater ausgesucht hatte. Sie hatte es ihm zuliebe getan.
Doch als ihre Ehe scheiterte, hatte sie wieder niemanden gehabt, an den sie sich wenden konnte. Sie hatte ja wohl schwerlich ihren Vater anrufen und ihm sagen können, daß der Mann, den er für sie ausgesucht hatte - und Mike hatte inzwischen herausgefunden, daß Dave Elliot ihrem Ex-Gatten das Geld gegeben hatte, damit er sich als Teilhaber in dieser Steuerberatungsfirma in Santa Fe einkaufen konnte -, sie als Packesel mißbrauchte. Da Sam als Kind von der Außenwelt isoliert und immer mit Geheimnissen belastet gewesen war, hatte sie auch nicht gelernt, wie man sich Freunde macht - Freunde, bei denen man sich aussprechen konnte.
Als Mike nun daran zurückdachte, wie Sam den ersten Monat in seinem Haus verbracht hatte - eingeschlossen in ihrer Wohnung, die sie nicht mehr verlassen wollte -, konnte er die Depression, an der sie damals litt, gut verstehen. Es war ja die Wohnung ihres Vaters gewesen, der sie zu seinen Lebzeiten im Stich gelassen hatte, und so hatte sie wohl gehofft, ihn dort nach seinem Tod wiederzufinden.
Und dabei fragte er sich immer wieder, was er denn tun könnte, damit Sam einsah, daß sie nicht schuld war an dem Tod ihrer Mutter und der Depression ihres Vaters. Mike hatte einmal gelesen, daß die Depression ein nach innen gerichteter Zorn sei. Was konnte er tun, damit sich dieser Zorn nach außen entlud? Er wollte erleben, daß sie mit Tellern warf, daß sie ihren Vater verfluchte, weil er sie im Stich gelassen hatte, daß sie sich darüber empörte, was ihr Ex-Mann ihr angetan hatte.
Er wollte sie weinen sehen!
Da erhob er sich von der Hollywood-Schaukel und trug sie ins Haus. Samantha glaubte, daß er sie ins Bett bringen wollte, und sie hoffte das jetzt auch, denn sie war sehr, sehr müde. Aber statt dessen trug er sie zur Haustür.
»Wo gehen wir denn hin?« fragte sie müde.
»Ich bringe dich zu deiner Großmutter. Ich denke, es ist Zeit, daß dieses Versteckspiel aufhört. Ich denke, daß es Zeit ist, daß wir eine Antwort bekommen auf einige Fragen.«
29
Es war am Morgen des nächsten Tages, als Mike in Maxies Zimmer zurückkehrte. Nicht, daß er das Pflegeheim über Nacht verlassen hätte; denn als er Sam am Abend zuvor zu ihrer Großmutter gebracht hatte, hatte er Maxie dringend empfohlen, ihrer Enkelin die Wahrheit zu sagen. Das Leben sei zu kurz und eine zu große Unbekannte, als daß sie und Sam es sich noch länger leisten könnten, so zu tun, als wären sie nichts weiter als Zufallsbekanntschaften. Mike war regelrecht zornig geworden und hatte vermutlich ein paar Dinge gesagt, die er in Anbetracht von Maxies Zustand wohl nicht hätte sagen sollen. Aber Samantha brauchte ihre Großmutter in der Zeit, die ihr noch vergönnt war - und Maxie brauchte Sam.
Er hatte sie danach allein gelassen, und die beiden hatten fast die ganze Nacht hindurch miteinander geredet, während Mike auf einem sehr kleinen und harten Bett in einem Raum genächtigt hatte, den man hier großspurig als Gästezimmer bezeichnete. Mike hatte keine Ahnung, was sie denn so viel zu bereden hatten. Jedenfalls hatte er mehrmals kurz bei ihnen hineingeschaut, und da waren sie immer noch in ihr Gespräch vertieft gewesen.
»Wie geht es ihr?« fragte Mike jetzt leise, als er zu Maxie ins Zimmer kam und einen kurzen Blick auf Samantha warf, die zusammengerollt in Maxies Armen lag. Mike hatte sich nicht rasiert und trug noch den - inzwischen zerknitterten und schmutzigen - Anzug, in dem er gestern Mr. Walden besucht und auf diesem harten Bett genächtigt hatte.
Samantha schlief in den Armen ihrer Großmutter wie ein Kind, das sich von einem Alptraum erholt: mit leicht geöffnetem Mund und ab und zu mit einem Schluckauf atmend.
An das Bett herantretend, sagte Mike: »Warten Sie, Maxie - ich werde Sie ihnen abnehmen. Sie ist nicht ganz leicht, und Ihre Arme müssen ja inzwischen abgestorben sein!«
Doch da schaute ihn
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