Jene Nacht im Fruehling
entdeckte sie den Zustelldienst. Als sie drei große Tüten mit Einkäufen aus dem Lebensmittelladen schleppte, empfahl ihr einer der Angestellten, sich die Sachen doch zustellen zu lassen - schließlich koste sie der Service nichts. Sie müsse dem Jungen, der die Sachen zustelle, lediglich ein paar Dollar Trinkgeld geben. Überdies könne sie, wenn sie sehr beschäftigt sei, den Laden anrufen und telefonisch bestellen, was sie haben wollte, und man würde ihr die bestellten Sachen ins Haus bringen.
Samantha hielt das für eine glänzende Idee, weil sie nun ihre Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen brauchte. Gleich am nächsten Morgen ging sie zur Bank und hob fünfhundert Dollar von ihrem Konto ab. Mit dieser Summe würde sie ziemlich lange auskommen, und damit war gewährleistet, daß sie in absehbarer Zeit auch keine Bankbesuche mehr machen mußte.
Als sie von dieser Besorgung heimkam und sich, wie stets, darüber freute, daß das Haus leer war, überlegte sie, was sie nun machen sollte. Sich immer wieder sagend, daß sie tun konnte, was sie wollte, entschied sie sich, Popcorn herzustellen, das sie anschließend in ihre Wohnung hinauftrug, wo sie sich wieder ins Bett legte und das Videogerät einschaltete. Aber die Videobänder, die ihr Vater sich zugelegt hatte, waren durchwegs Lehrfilme, die das Leben und Treiben zahlloser Käfer und Vögel wissenschaftlich beleuchtete, und deshalb wurde sie nach einer Weile müde. Wie herrlich, am Nachmittag schlafen zu können, dachte sie bei sich, denn ein Mittagsschläfchen gehörte sicherlich zu den großen Luxusgütern des Lebens.
Als sie im Dämmerlicht von dem Geräusch eines Lachens geweckt wurde, stieg sie aus dem Bett, ging ans Fenster und blickte in den Garten hinunter, wo ihr Hausherr offenbar eine Party veranstaltete. Er briet Steaks auf einem Gartengrill - Samantha sah, daß er das nicht vorschriftsmäßig machte, weil er das Fleisch beim Wenden aufspießte - und trank Bier mit einem halben Dutzend adrett gekleideter Leute.
Wie stets schien er zu spüren, wenn sie ihn beobachtete, denn er drehte sich abrupt um und winkte mit einem Arm, ihr bedeutend, daß sie herunterkommen und sich den Partygästen anschließen solle. Aber Samantha wich ins Zimmer zurück und zog die Vorhänge zu. Sie legte eine CD in den CD-Plattenspieler ein, setzte sich in den Lehnstuhl ihres Vaters und nahm ein Buch zur Hand - sie las jetzt eine fünf Pfund schwere Biographie über Katharina die Große. Als das Gelächter im Garten lauter wurde, stellte sie auch die Stereoanlage lauter. Es waren ausschließlich CDs mit altem Blues - Lieder, die ihr Vater da hatte, Musik aus den zwanziger und dreißiger Jahren, melancholische Lieder, die von solchen Leuten wie Bessie Smith und Robert Johnson gesungen wurden. Es war keine Musik, die Samantha sich ausgesucht hätte, aber sie fing an ihr zu gefallen, da es Lieder waren, die ihr Vater gemocht hatte.
Als die dritte in die vierte Woche überging, stellte Samantha fest, daß es das Schlafen war, was sie tatsächlich am meisten tun wollte. Seit ihre Mutter gestorben war -sie war damals zwölf gewesen -, hatte sie stets das Empfinden gehabt, daß sie nie mehr genügend Zeit gehabt hatte zum Schlafen. Da mußten erst die Schulaufgaben gemacht, die Hausarbeiten erledigt und die Wünsche und Bedürfnisse anderer Leute, um die sie sich kümmern mußte, befriedigt werden. Dann, nachdem sie geheiratet hatte, mußte sie täglich drei Mahlzeiten zubereiten und an sechs Wochentagen acht bis zwölf Stunden arbeiten. Nun schien es ihr völlig normal zu sein, daß der versäumte Schlaf vieler Jahre sie eingeholt hatte, und sie war froh, daß sie nun die Zeit fand, ihn nachzuholen.
Als sie in Louisville den Hausstand auflöste, hatte sie es nicht übers Herz bringen können, alle Kleidungsstücke ihres Vaters zu verschenken, und so hatte sie einige davon in Kartons verpackt und diese mit der Post nach New York geschickt. Sie fühlte sich ihm näher, wenn sie seine Hemden über ihren Jeans trug, sie liebte es, in seinen Pyjamas zu schlafen, und am allerliebsten trug sie seinen schweren Flanell-Bademantel.
Als sie die vierte Woche in New York wohnte, fühlte sich Samantha außerordentlich entspannt. Es war erstaunlich, wieviel Stunden sie täglich schlafen konnte. Manchmal wachte sie nicht vor zehn Uhr morgens auf. Dann stieg sie ins Erdgeschoß hinunter, um sich dort eine Schüssel Weizenflocken zu holen. Doch ab und zu aß sie überhaupt nichts. Wenn sie
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