Jene Nacht im Fruehling
wenn man allein durch die Straßen ging? Durch das Türfenster konnte sie Frauen am Haus Vorbeigehen sehen. Einige führten Hunde an der Leine spazieren und trugen Jeans, andere hatte lange, engsitzende schwarze Kostümjacken an mit winzigen Röcken darunter. Keine von ihnen machte auf sie einen sonderlich verschreckten Eindruck.
Tief Luft holend, öffnete sie schließlich die Haustür, schloß und versperrte sie hinter sich, stieg die Vortreppe hinunter, ging bis zur nächsten Straßenecke und bog dort nach links ab. Als sie das grüne Straßenschild über sich las, stellte sie fest, daß sie sich nun auf der Lexington Avenue befand. Während sie die Straße eine Häuserzeile weit in nördlicher Richtung hinunterging, sah sie einen Lebensmittelladen mit einem Obst- und Gemüsestand, ein Schuhgeschäft, eine chemische Reinigung, eine Zweigstelle der Bank von New York, eine kleine Videothek, ein Feinkostgeschäft mit frischgebackenen Brötchen und Pasteten im Schaufenster und eine Buchhandlung.
Innerhalb von zwei Stunden hatte sie ihr Konto in der Zweigstelle eröffnet, frisches Obst, Gemüse, frische Schnittblumen und die Taschenbuchausgabe eines Romans gekauft - und das alles, ohne auch nur eine Straße überqueren zu müssen. Dann ging sie bis zur Ecke des Häuserblocks zurück, bog nach rechts ab und ging ohne auch nur einmal anzuhalten, zu dem Haus zurück, in dem sie zur Miete wohnte. Sie steckte den Schlüssel in das Schloß der Eingangstür, sperrte sie auf, machte sie hinter sich wieder zu und lehnte sich von innen mit einem Seufzer der Erleichterung dagegen. Sie hatte soeben ganz allein einen Ausfall in die Stadt New York gewagt und war davon unversehrt zurückgekommen. Niemand hatte ihr ein Messer an die Kehle gesetzt, ihr die Handtasche geraubt oder versucht, ihr Drogen zu verkaufen. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, als hätte sie einen Berg erstiegen, eine Fahne auf dessen Gipfel gepflanzt und wäre nun nach Hause gekommen, um die Geschichte ihrer Expedition zu erzählen.
Nachdem sie die Lebensmittel in der Küche verstaut hatte, füllte sie eine Schale mit Milch und Weizenflocken, kochte sich einen Kräutertee, nahm ein mit Preiselbeeren gefülltes Milchbrötchen aus der Tüte mit den Backwaren, tat das alles auf ein Tablett und begab sich damit in den Garten.
Nachdem sie sich dort in einen der Gartenstühle gesetzt hatte, streckte sie die Beine aus und wackelte mit den Zehen. Vielleicht hätte sie sich einsam fühlen sollen, aber statt dessen fand sie es herrlich, keine Verpflichtungen zu haben. Zuweilen kam es ihr so vor, als habe sie ihr ganzes Leben lang nur für andere gesorgt. In den Jahren ihrer Ehe hatte sie nicht eine Minute für sich Zeit gehabt, immer hatte ihr Mann dieses oder jenes gebraucht. Wenn es nicht der Hunger war, der ihn gerade plagte, dann war es irgendein Zettel oder Gegenstand, den er nicht finden konnte und bei dessen Suche sie ihm helfen mußte. Oder er brauchte ein frisches Hemd oder jemanden, der ihm zuhörte, wenn er sich über das erbärmliche Leben beklagte, das er führen mußte.
Bei diesem Gedanken preßte Samantha die Lippen zusammen. Alles in allem war es doch besser, wenn sie nicht an ihren Ex-Gatten und dessen »Schriftstellerei« dachte.
»Wie ich sehe, haben Sie es bis zu einem Supermarkt geschafft.«
Bei dem Klang von Mikes Stimme wäre Samantha vor Schreck fast vom Stuhl gekippt. Sofort setzte sie sich kerzengerade hin, stellte die Füße auf den Boden und legte die Hände in den Schoß, ohne ihn anzusehen.
»Hatten Sie Schwierigkeiten beim Einkaufen?« fragte Mike und sah auf sie hinunter und ärgerte sich darüber, daß sie überzeugt zu sein schien, er wäre ein Axtmörder mit einem unbezähmbaren Sexualtrieb.
»Nein, keine«, sagte sie, stand auf und bewegte sich auf das Haus zu.
»Sie brauchen nicht zu gehen, nur weil ich hier im Garten bin.« Sein Verdruß war ihm deutlich anzumerken.
Sie sah ihn nicht an. »Nein, natürlich brauche ich das nicht. Ich habe nur einiges zu erledigen. Das ist alles.«
Stirnrunzelnd sah Mike ihr nach, bis sie im Haus verschwunden war. Er wußte, daß sie den Garten nur verlassen hatte, um seine Nähe zu meiden.
Samantha ging hinauf in die Zimmer, die ihr Vater für sich ausgesucht hatte - die Räume, die sie an ihn erinnerten und die ihr ein Gefühl der Sicherheit gaben -, machte es sich dort in einem dunkelgrünen Polstersessel bequem und begann, den Roman zu lesen, den sie in der Taschenbuchausgabe gekauft
Weitere Kostenlose Bücher