Jene Nacht im Fruehling
hatte. Sie hatte den ganzen Tag für sich, und sie konnte genau das tun, was sie tun wollte. Tatsächlich hatte sie nun ein ganzes Leben vor sich, in dem sie tun konnte, was sie tun wollte. Das einzige, was sie tun mußte, war, ihr Jahr in New York abzusitzen. Dann würde sie frei sein.
*
In den nächsten Wochen genoß Samantha ihre Freiheit mit dem Entzücken eines Menschen, der noch nie in seinem Leben gewußt hatte, was Freiheit ist. Seit ihre Mutter gestorben war, hatte sie niemals Zeit gehabt, sich in einen Sessel zu setzen und zu lesen oder einfach still dazusitzen und zu träumen. Als Kind liebte sie es, lange Schaumbäder zu nehmen, aber seit dem Tod ihrer Mutter hatte es nur noch zu kurzen Duschbädern gereicht. Wenn sie nun die Straße ihres zukünftigen Lebens vor sich sah, erkannte sie, daß sie zumindest die Zeit hatte, all die Bücher zu lesen, die sie schon immer hatte lesen wollen, und auch die Zeit, um ein Hobby zu betreiben, sobald sie ein ihr gemäßes gefunden hatte. Sie hatte Zeit, um alles und jedes zu tun.
Nach dem Aufwachen sah sie sich jeden Morgen lächelnd im Zimmer ihres Vaters um, nicht nur das Gefühl genießend, ihm nahe zu sein, sondern auch die Aussicht auf einen langen, von Pflichten freien Tag. Sie stellte eine Liste von Büchern zusammen, die sie lesen wollte. Da standen eine Menge Biographien im Arbeitszimmer ihres Vaters, und sie begann mit einem Buch über Königin Victoria, das mindestens vier Pfund wiegen mußte.
Sie verließ das Haus nur, um Lebensmittel einzukaufen; denn alles, was sie sonst noch brauchte, befand sich ja innerhalb ihrer vier Wände. Eine Waschmaschine und ein Wäschetrockner standen in einem kleinen Raum neben der Küche; dann war da der Garten hinter dem Haus, und in ihrer Wohnung hatte sie ein Videogerät und Videobänder mit Fitneßübungen. Sie hatte Bücher und ein Fernsehgerät mit Kabelanschluß. Und sie hatte Zeit. Es bestand kein Grund, das Haus zu verlassen, wenn dies nicht unbedingt nötig war.
Das einzige störende Element in ihrem sonst so herrlichen, geruhsamen Leben war der Hausherr. Zwar hielt er sein Versprechen ein und belästigte sie nicht. Tatsächlich hätte man in den ersten zwei Wochen nach ihrem Einzug meinen können, sie bewohne das Haus ganz allein, aber sie gab sich ja auch große Mühe, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie hätte gern besser über seine Gewohnheiten Bescheid gewußt, um jeglichen Kontakt mit ihm vermeiden zu können, doch soweit sie es zu beurteilen vermochte, führte er kein geregeltes Leben. Manchmal verließ er das Haus schon frühmorgens, manchmal erst am Nachmittag und zuweilen überhaupt nicht. An den Tagen, an denen er daheimblieb, hatte Samantha Schwierigkeiten, ihm nicht zu begegnen; denn er schien sich immer dann zu entschließen, in die Küche zu gehen, wenn sie selbst auf dem Weg dorthin war, um sich etwas zuzubereiten. Dann mußte sie rasch wieder die Treppe hinaufeilen, um nicht von ihm gesehen zu werden.
An den Tagen, an denen er ausgegangen war, wanderte sie manchmal durch seine Zimmer; denn es gab keine Tür, die sie vom übrigen Haus trennte. Sie faßte natürlich in seiner Wohnung nichts an, sondern schaute sich dort nur um und las die Titel der Bücher über Gangster. Aber nichts davon interessierte sie.
Er war kein ordnungsliebender Mensch, sondern schien seine Kleider dort am Boden liegenzulassen, wo er sie ausgezogen hatte, doch jeden Mittwoch kam eine recht hübsche junge Frau ins Haus, um bei ihm sauberzumachen. Sie hob all seine Sachen vom Boden auf, wusch sie und räumte sie dann, wenn sie getrocknet und gebügelt waren, in seine Schränke ein. An einem Mittwoch hörte Samantha unten das Telefon klingeln und dann die Haustür zufallen und wußte, daß die junge Frau vorzeitig gegangen war.
Als Samantha daraufhin ins Erdgeschoß hinunterging, sah sie, daß der Wäschetrockner vollgestopft war mit Wäsche und auf dem Tisch im Eßzimmer schmutziges Geschirr herumstand. Ohne sich dessen recht bewußt zu werden, was sie tat, begann sie das Zimmer aufzuräumen. Als der Trockner summte, nahm sie die nun trockene Wäsche heraus, faltete sie zusammen, trug sie in Mikes Schlafzimmer und räumte sie dort in den Schrank ein, wobei sie sich die ganze Zeit über sagte, daß sie ja die Freiheit habe, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Und wenn sie das tun wollte, tat sie es eben. Zudem würde er niemals wissen, wer diesmal bei ihm saubergemacht hatte.
Am Anfang ihrer dritten Woche in New York
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