Jene Nacht im Fruehling
»Samantha es ist jetzt elf Uhr. Wenn Sie noch länger zum Anziehen brauchen, werden die Läden bereits wieder geschlossen haben.«
»Läden«, wiederholte sie in entsetztem Ton und versuchte sich von ihm loszureißen, aber er hielt sie fest.
»Ich kann in diesem Aufzug unmöglich einen Laden betreten«, sagte sie.
Mike blickte sie von oben bis unten an und las die Aufschrift auf ihrem Jogginganzug. »Für mich sehen Sie angezogen aus. Mir gefällt diese Farbe an Ihnen. Und wir könnten Ihnen ja auch neue Kleider kaufen, wenn Sie das möchten.«
Und wenn sie jetzt noch heftig an seinem Arm zog: Es brachte ihr keine Befreiung.
»Ich muß mich umziehen«, erklärte sie.
Sie mit einem dieser frustrierten Blicke musternd, die stumm bis zehn zählten, sagte er mit übertriebener Nachsicht: »Wenn Sie das, was Sie anhaben, nicht mögen, warum haben Sie es dann überhaupt angezogen?«
Samantha wollte ihm diese Frage nicht beantworten, weil sie ihm wohl schlecht sagen konnte, daß dies mit der Absicht geschehen war, daß er sich weigern sollte, so mit ihr zusammen gesehen zu werden. Und jetzt schon gar nicht, wo es ihm offenbar egal war was sie trug.
Sich wie ein Kind fühlend, das bestraft werden sollte, folgte sie ihm mit gesenktem Kopf aus dem Haus auf die Straße hinaus. Bisher war ihre Erfahrung von New York ausschließlich auf die Lexington Avenue beschränkt gewesen. Nun wanderte sie mit Mike auf die Madison Avenue zu, dann weiter zur Fifth, und je näher sie der Fifth Avenue kam, um so mehr wurde sich Samantha ihres scheußlichen Aufzuges bewußt. In den Magazinen sah man nur Mannequins, die wunderschöne Modellkleider anhatten, und da fragte man sich, in der wirklichen Welt des Mittleren Westens, wer denn, zum Kuckuck, diese Sachen auch trug. Die meisten Amerikaner liefen doch in grellfarbenen Sportanzügen umher und sahen so aus, als würden sie ihr Leben mit Bergsteigen und Marathonläufen verbringen. Aber in New York sahen die Männer und Frauen - besonders die Frauen - für Samantha so aus, als wären sie soeben dem Schaufenster eines Modesalons entstiegen.
Als sie neben Mike herging, ihre linke Hand unter seinen rechten Arm geklemmt, wurde sich Samantha schmerzlich der Frauen bewußt, von denen sie umgeben war. Die sahen so ungeheuer gepflegt aus. Ihr Haar schien von Feen mit Nektar schamponiert worden zu sein, ihre Nägel waren perfekt manikürt und lackiert, als würden sie ihre Hände niemals gebrauchen, und ihre Kleider konnte man nur mit dem Wort himmlisch beschreiben.
Natürlich war niemand auf dieser Welt vollkommen, und was ihr noch an den New Yorker Frauen auffiel, war deren Snobismus. Viele von ihnen musterten Samantha mit einem mitleidigen Blick, wenn sie deren Aufzug sahen, und einige von ihnen lächelten sogar, sobald sie bemerkten, wie Samantha dichter an Mike heranrückte, als suche sie beim ihm Schutz. Ihr das Gesicht zuwendend, sah Mike auf sie hinunter, tätschelte ihre Hand und lächelte, wenn sie sich noch näher an ihn heranschob. Offenbar bemerkte er gar nicht, was sich da zwischen der Frau, die sich an ihn klammerte, und den Frauen, die ihnen auf der Straße begegneten, abspielte. Samantha dachte, es müsse herrlich sein, sich seiner Umgebung so wenig bewußt zu werden wie er.
Als sie dann die Fifth Avenue erreichten, wollte sich Samantha in einem Gully verkriechen. Mike schien einen ganz bestimmten Laden im Kopf zu haben, denn sie eilten nun, ohne anzuhalten, an einer ununterbrochenen Kette von Läden mit den herrlichsten Sachen in den Schaufenstern vorbei. Sie passierten die Auslagen von Tiffany, Gucci, Christian Dior und Mark Cross, und nach einer Weile hörte Samantha auf, die Kleider in den Schaufenstern zu betrachten, denn je mehr sie davon sah, desto schlechter fühlte sie sich.
An der Fünfzigsten Straße kamen sie zu einem Kaufhaus mit dunkelblauen Markisen, und zu ihrem Entsetzen steuerte Mike auf eine der Drehtüren dort zu. Diesmal gelang es ihr, sich von ihm loszureißen. Zum einen hatte sie schon immer ihre Schwierigkeiten mit Drehtüren gehabt, weil sie einfach nicht den Dreh herausbekam, wann man sich in diese Dinger einfädeln und wann man sich wieder ausfädeln mußte. Einmal war sie darin dreimal im Kreis herumgelaufen, ehe sie wieder herausfand. Und zum anderen bemerkte sie, daß die Drehtür zum Kaufhaus Saks in der Fifth Avenue gehörte. Sie konnte unter keinen Umständen in einem abgewetzten Jogginganzug ein weltberühmtes Kaufhaus betreten.
Mike
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