Jene Nacht im Fruehling
»Warum lassen Sie nicht einen guten Faden an diesem Mann? Ich dachte, daß Autoren die Leute, über die sie schreiben, auch mögen müssen!«
»Tatsächlich? Wie steht es denn da mit Autoren, die sich mit Massenmördern beschäftigen und über sie schreiben müssen? Ich mag Barrett nicht und werde ihn niemals mögen, aber der Mann fasziniert mich. Bisher hat noch niemand versucht, eine dokumentarische Darstellung seines Lebens herauszubringen. Niemand weiß, wozu dieser Mann wirklich fähig ist.«
Samantha brauchte einen Moment, ehe sie mit leiser Stimme antwortete: »Er macht auf mich den Eindruck eines liebenswürdigen Menschen.«
Mike mußte erst einmal schlucken, ehe er wieder sprechen, und tief durchatmen, ehe er ein Wort sagen konnte: »Wie kommt es nur, daß Frauen rührselige Geschichten so sehr lieben? Da tischt Ihnen ein Mann, dem Sie vorher noch nie begegnet sind, eine sentimentale Story von einer echten, verlorenen Liebe auf, und Sie fallen sofort darauf herein. Mir hat besonders dieser Schlußsatz von König Midas gefallen. Ich frage mich, ob er seinen zu Tränen rührenden Vortrag nicht schon vorher geprobt hat, ehe er Sie damit beglückte.«
Sie fuhr aus ihrem Stuhl hoch und funkelte ihn wütend an. »Und ich kann Ihre Eifersucht nicht mehr ertragen! Vom ersten Augenblick an, als wir uns kennenlernten, haben Sie mich so behandelt, als wäre ich Ihr Eigentum. Sie sind in meine Wohnung und Privatsphäre eingedrungen, haben mich verfolgt und gedemütigt und mir überhaupt ständig das Leben schwergemacht. Und ich kenne Sie nicht einmal. Sie bedeuten mir nichts.«
»Ich bedeute Ihnen auf jeden Fall mehr als Barrett«, erwiderte Mike, der nun ebenfalls aufstand und sich über den Tisch lehnte.
»Nein, Sie bedeuten mir nichts«, erwiderte sie ruhig. »Er ist mein Großvater, mein letzter noch lebender Verwandter auf dieser Welt.«
Mike holte heftig Luft. Nun wußte er, was ihn so sehr an ihrem Gesichtsausdruck gestört hatte, als sie von Barretts Haus nach New York zurückfuhren. Es war ein zufriedenes Lächeln gewesen, ein Lächeln als habe sie etwas wiedergefunden, was sie bereits verloren zu haben glaubte.
»Sam«, sagte er, seine Hand ausstreckend, um sie zu berühren.
Aber sie wich ihm aus, wollte nicht hören, was er ihr meinte sagen zu müssen. Er konnte sich die Attitüde des Allwissenden leisten, was ihre Empfindungen angesichts eines wiedergefundenen noch lebenden Verwandten anlangte, weil seine offenbar zu Tausenden zählende Verwandtschaft über ganz Amerika verstreut zu sein schien. Jemand wie er konnte unmöglich verstehen, was es bedeutete, absolut und vollständig allein auf der Welt zu sein. Er konnte nicht begreifen, was ein Erntedankfest-Dinner für sie bedeutete, zu dem sie niemanden einladen, oder ein Weihnachtsfest mit niemandem, dem sie ein Geschenk machen konnte. Jemand wie er, der eine so große Familie besaß, daß er es sich leisten konnte, sich zynisch über sie zu äußern oder sich an gemeinen Behauptungen über sie zu erfreuen, konnte das einfach nicht verstehen. Vielleicht hatte dieser Mann Barrett ein paar schreckliche Dinge in seiner Jugend verbrochen; vielleicht war alles, was Mike über ihn wußte, wahr, aber nun war er ein alter, sehr alter Mann, und er war allein - und sie Samantha, war ebenfalls allein.
Sich von diesem Mann wegdrehend, der für sie ein Fremder war, machte Samantha sich auf den Weg ins Haus.
Doch Mike vertrat ihr wieder mal den Weg, legte ihr die Hände auf die Schultern und fragte: »Samantha, wohin wollen Sie jetzt gehen?«
»Nach oben. Ich denke, ich habe doch die Freiheit, mir das zu erlauben - oder etwa nicht?«
Mike ließ ihre Schultern nicht los. »Ich möchte wissen, was in Ihrem Kopf vorgeht. Mir gefällt der Ausdruck in Ihren Augen nicht.«
»Mir gefällt der Ausdruck in Ihren Augen fast nie«, zischte sie ihn an. »Bitte, lassen Sie mich los. Ich muß packen.«
»Ich werde Sie nicht eher loslassen, bis Sie mir verraten, wohin Sie zu gehen gedenken, nachdem Sie dieses Haus verlassen haben.«
Mike beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen, aber sie drehte den Kopf zur Seite. »Sie gehen zu ihm, nicht wahr?«
»Das geht Sie überhaupt nichts . . .«
»Sam, Sie können unmöglich zu diesem Mann gehen. Er ist ein Mörder!«
Sie maß ihn mit einem verächtlichen Blick. »Er ist einundneunzig Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Was für einen Grund sollte er wohl haben, mir etwas antun zu wollen? Ich bin nicht reich, also
Weitere Kostenlose Bücher