Jennerwein
Kleinbauer, sein Weib, die Haider Mutter, der dreizehnjährige Hans, der zehnjährige Georg. Über den gesenkten Köpfen, an der Balkenwand, der leibhaftige Gott, der von Säkulum zu Säkulum Festgenagelte. Kaum hatte der Hausherr den letzten Bissen verschlungen, richtete er seinen Blick auf das Schnitzwerk und begann inbrünstig zu beten. Leiernd, wie dressiert, fiel sein leiblicher Sohn ein. Ebenso die Alte, ohne weiter nachzudenken. Die Marei hingegen schien sich eher schwer in den bigotten Rhythmus zu finden. Eben noch hatte ihr das Bild vom Hochzeitsbett scheu durchs Gehirn gelichtelt. Das Kitzeln einer Spielhahnfeder dazu, auch wenn sie sich’s bewußt nicht hatte eingestehen wollen. Nun aber fiel sie notgedrungen ins Dumpfe zurück, von Ave Maria zu Ave Maria mehr. Keine Gnade kannte der Geißler, die Düsternis des ganzen verregneten Spätmittags hindurch. Die Marei, als sie einmal verstohlen dorthin schielte, wo der Girgl am Tisch gekauert hatte, stellte fest, daß der Bub sich verdrückt hatte.
Das Harte, das Angespannte, das Menschenferne in den Augen seines nunmehrigen Stiefvaters hatte den Zehnjährigen aus der Stube gescheucht. Wie unter einem hinterfotzigen Hieb waren ihm dessen Lamentieren und das Saufen des Großvaters früher jäh eins geworden. Hier wie dort schien ihm etwas das Innerste hundsgemein zu zwängen. So war der Fluchttrieb wieder aufgebrochen in der jungen und doch schon so arg geschrundeten Seele des Georg Jennerwein, und er war gerannt, einfach weg aus der Bedrängnis, bis die Loisach seinem Hakenschlagen unvermittelt eine Grenze gesetzt hatte.
Jetzt, angesichts des Flußrauschens und des Kieselschleifens am Grund, kam er wieder zu Atem. Fand so etwas wie ein Schutzdach unter den triefenden Baldachinen der Erlen. Kniete sich in der Nähe eines der gnomischen Knollenstämme hin, wühlte im Schlick, im Letten und fingerte einen flachen Stein ans trübe Herbstlicht. Er spuckte auf den Kiesel, rieb ihn blank, atmete tief und saugend ein und ließ den Stein urplötzlich flach wegschnalzen. Das Plattl kappte die erste Rieselwelle federleicht, schien sich dann sang- und klanglos hineinzugraben in die Loisach, fing sich aber wie aufjubelnd doch wieder und zog, sieben-, acht-, neunfach, die begeisternde Flirrbahn. Der Zehnjährige juchzte und wußte es nicht. Mit den Augen, mit der Kehle versuchte er den Kiesel weiter und weiter zu treiben. Seine Seele hieb er mental zwischen Stein und Loisachwasser, kurz vor jedem jähen Weiterschnellen. Fast schaffte er die endgültige Befreiung, den finalen Ausbruch. Doch dann kippte das Plattl, seinerseits wie hakenschlagend, unvermittelt ab; zwei, drei Meter bloß noch vor dem jenseitigen Ufer. Aus der Euphorie heraus verbissen sich die Gesichtszüge des Georg Jennerwein schlagartig wieder. Er gab aber nicht auf. Verließ den Erlenschutz und sprang auf die Sandbank. Verlor den Grund, stand im eiskalten Wasser bis über die Schnürstiefel. Bückte sich, warf den zweiten Kiesel, dann den dritten, den vierten. Verschwor seine Seele dem Teufel, so es ihm doch bloß endlich glücken würde. Nicht mehr mit Verstand und Ziel warf er jetzt, sondern feuerte Geschoß um Geschoß aus sich, ganze Garben. Er deckte die Loisach ein in einem immer mehr ausufernden Wutanfall. Und kam nicht durch, kam nicht durch, kam ums Verrecken nicht durch. Schaffte es nicht, die Mauer zu durchbrechen; die unsichtbare, die hundshäutene. Unerreichbar blieb seinen geistigen Sendlingen das andere Ufer. Unerreichbar auch dann noch, als er wie hirnrissig keuchte und brüllte; als er schon bis zu den Schenkeln im eisigen Gebirgswasser stand und immer tiefer ins Grundlose geriet.
In sein Toben hinein dann, von den Erlen her, das Gellen, das Keifen: »Das wenn der Vater erfährt! Der haut dich windelweich!« Der Hans war’s, der Dreizehnjährige, die Stiefsau. Der Dunkle, der Dressierte, der Eingesessene. Der Eingeborene! »Scheitelknien {24} mußt, das kann ich dir jetzt schon sagen! Dein Sonntagsgewand, das ist hin. Da wird sie eine Freud’ haben, die Mutter…«
Dieses letzte Wort war es, das den Ausschlag gab. Bis dahin hatte der Zehnjährige eher noch verdattert zum Erlenstreifen geglotzt. Jetzt aber packte ihn der Haß blutrot. Aus dem ziehenden, gurgelnden Fluß heraus schnellte sich sein magerer Körper wie von selbst. Auf die Schnauze haute es ihn, zwei-, dreimal, ehe er festen Boden erreichte. Aber aus dem letzten Sturz heraus sprang er den Stiefhammel an. Scherte sich
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