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Jennerwein

Jennerwein

Titel: Jennerwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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Geißlerschen. Müssen uns darein finden! Ob du’s wahrhaben willst oder nicht. Der Geltinger Gütler ist jetzt dein Vater. Ist schon so und wird so bleiben…«
    »Ist nicht so!« beharrte trotzig der Zehnjährige, warf die Heugabel hin, floh. Fetzte wie gehetzt hinüber zur Loisach, zum Flußgurgeln, zum Kieselschleifen.
    Die Marei starrte. Tät’ er Geißler heißen, vielleicht wäre alles leichter, sinnierte sie. Wird aber der Georg Jennerwein bleiben. Hat auch keinen Sinn, daß ich den Frömmler noch einmal darum bitte, daß er’s ändert. Hat mich eh erst neulich wieder deswegen zusammengeschissen, der Bock. Advokatisch hätt’ man’s machen müssen, von Anfang an, wie mit dem Austrag von der Mutter. Aber ich hab’s halt versäumt, bin zu dumm gewesen, dem Girgl zu Lasten. Bin ja auch bloß ein blödes Weib. Sie seufzte, drängte rüde die Rotgescheckte beiseite, überlegte abschließend: Fünf Kühe und eine Kalbin haben wir jetzt im Stall. Trotzdem wär’s vielleicht besser gewesen, ich wär’ mit dem Buben und der Mutter in Haid geblieben…
    Nach dem Füttern trat die Marei vor die Tür, verschnaufte und spürte im feuchten Wind den Flußgeruch. Das Anwehen der Natur machte ihr das Herz wieder ein klein wenig leichter. So etwas Schönes wie die Loisach haben wir im Großhartpenninger Gäu nicht gehabt, fuhr es ihr durch den Sinn. Bloß daß der Bub mehr dort draußen als auf dem Gütl ist, das bräucht’s auch nicht. Und immer rennt er allein fort!
     
    *
     
    Dieses Alleinrennen, dieses Ausbrechen, diese Fluchten freilich waren für den Zehn-, Elf-, Zwölfjährigen überlebensnotwendig. Das Ufer zu gewinnen, den Gries, den Erlensaum war immer nur der erste Schritt. Hatte er erst einmal den Baumbaldachin erreicht, sah er das Gletschergrüne und Felsmilchige im Strudeln vor sich, dann trug es ihn unversehens fort, weit über die einzwängenden Geltinger Dimensionen hinaus. Dann hieb es ihm das Gütl weg, den Geißler und den Hans, der sein Bruder nie sein würde; dann hutschte die Loisach ihn hüpfend durch ein Himmelsloch, das nur er kannte; dann war er, von mentalen Spielhahnfedern beflügelt, frei. Lief er am eisigen Rinnen entlang, stundenweit, erreichte er Anderswelten. In denen existierte kein Betbruder und existierte auch kein Dunkler, kein Größerer; niemand mehr, der unter einem Angenagelten auf ihn lauerte. Dort existierten auch die jetzt wieder so gescheuchten Augen der Mutter nicht mehr und nicht mehr das Stummsein der Alten, das die schon bald nach der Hochzeit wiederaufgenommen hatte. Auch der Spott der Dorfkinder nicht über den Hergelaufenen, ebensowenig die Schmerzen, die sich ihm beim ersten Scheitelknien ins Fleisch, ins Bein gefressen hatten; damals und seitdem unter dem bigotten Blick des Frömmlers immer wieder. Aus alldem brach der jetzt schnell und unbeholfen Heranwachsende aus am Ufer der Loisach, auf den krummen, matschigen Pfaden dort. Seine Seele ließ er wegschnellen, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot, und jenseits all des Elends wurde der Girgl, der Ruppige, der Schläger dann von etwas ganz anderem aufgefangen.
    Sein Gesicht zeigte ihm der andersweltliche, der himmlische Vater nie. Das blieb immer irgendwie von Wolken verschattet, von goldgeränderten. Das wärmte bloß, besaß aber keine Augen, keine Nase, keinen Mund, keinen Schnauzer. Dafür war aber die Spielhahnfeder da; horizontweit oft, gleich einer gleißenden Föhnbank. In allen Farben, die der Litaneienmurmler dem Girgl nicht gönnen wollte, schillerte sie. Erschütterte den Himmel wie Adlerschwingen. Und hob den Stiefsohn hinauf in die Geborgenheit der väterlichen Umarmung. Eine Umarmung ohne konkrete Berührung war es, eine rauhe, herzliche Freundschaft eher; etwas, worauf unabdingbar Verlaß war. Ein Abenteuern zusammen, Seite an Seite, Segel an Segel, Büchse an Büchse – manchmal hinüber bis ins Amerika {25} . So Feinde auftauchten, der Geißler etwa, knallte flugs der doppelte Fangschuß. Kirchtürme, Kuhställe und Kruzifixe wischte der mit der Spielhahnfeder einfach weg. War der Sieg errungen, feierte der Unbesiegbare ihn mit warmem Baßlachen. Nahm denjenigen, den er geheimnisvoll erzeugt hatte, an der Hand und führte ihn weiter. Georg Jennerwein aber, seinem verschollenen Ursprung so nahe, spürte dann den Haß aus seinem Herzen rinnen; spürte, wie all dies versickerte, irgendwo, vielleicht in der Loisach.
    Eine Flucht nach der anderen also dorthin, wieder und wieder während

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