jennissimo (German Edition)
hatte. Nicht weil sie sich fürchtete, sondern weil die Erinnerungen zurückkamen und es ihr unmöglich machten, sich zu entspannen.
„Das glaube ich kaum“, sagte er. „Du siehst erschöpft aus. Wasch dir das Gesicht und geh ins Bett.“
„Es ist acht Uhr.“
„Na und? Willst du vielleicht behaupten, dass du nicht zum Umfallen müde bist?“
Bis jetzt hatte sie sich selbst etwas vorgemacht, doch mit einem Mal übermannte sie eine unendliche Müdigkeit.
„Gut“, sagte sie. „Du hast recht. Ich gehe ins Bett. Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.“
„Versuch nicht, mich rauszuwerfen. Ich werde nicht gehen.“
Sie starrte ihn an. „Du kannst nicht hierbleiben!“
„Aber sicher kann ich! Violet, du musst dich ausruhen. So wie ich das sehe, klappt das nur, wenn du dich sicher fühlst. Mir kannst du hundertprozentig vertrauen, wie meine Mutter gesagt hat. Ich werde hierbleiben, damit du keine Angst mehr haben musst. Sobald wir wissen, dass Cliff die Stadt verlassen hat, verschwinde ich, und du musst mich nie mehr wiedersehen, wenn du nicht möchtest.“
Er wollte nur nett sein, aber es fiel ihr schwer, sein Angebot anzunehmen. Nicht viele Männer in ihrem Leben waren nett gewesen.
Natürlich hätte sie ihn rauswerfen können. Stattdessen sagte sie: „Nun, dann solltest du es dir gemütlich machen“, und ging ins Badezimmer.
Dort wusch sie sich vorsichtig das Gesicht und starrte den vielfarbigen Bluterguss auf ihrer Wange an. Dann schlüpfte sie in ihren Pyjama und ging zurück ins Schlafzimmer.
Dragon war in der Zwischenzeit offenbar zu seinem Autogegangen. Ein kleiner Koffer stand neben der Tür. Sein Jackett und sein Hemd hingen über dem Küchenstuhl, seine schwarze Hose ordentlich über dem Kühlschrank. Jetzt trug er Jogginghose und T-Shirt. Selbst barfuß wirkte er sehr groß und kräftig und ein kleines bisschen einschüchternd.
Sie wusste nicht, was sie tun oder wohin sie schauen sollte. Nicht weil sie Angst vor ihm hatte, sondern weil er viel zu nett war und sie befürchtete, jeden Moment die Fassung zu verlieren. Er nahm ihre Hand, zog sie ins Schlafzimmer und schlug die Bettdecke zurück. „Rein mit dir“, sagte er. „Ich werde heute hier schlafen. Auf der Bettdecke. Ich werde dich nicht anrühren, weil ich viel zu beschäftigt bin, deine Dämonen zu verscheuchen.“
Sie löste sich von ihm und sah ihn an. „Tu das nicht!“, sagte sie mit brennenden Augen. „Sei nicht so nett zu mir! Damit machst du es mir nur noch schwerer, als es ohnehin schon ist.“
„Ich möchte es dir nicht schwerer machen, sondern helfen.“
Sie schob das Kinn vor. „Vielleicht hatte ich es ja verdient.“
Sanft berührte er ihre verletzte Wange. „Violet, niemand verdient so etwas!“
„Du hast doch keine Ahnung! Was weißt du denn schon? Ich bin schon früher verprügelt worden. Zweimal. Das war in meiner Branche so üblich.“ Sie straffte die Schultern. „Ich bin nicht die, für die du mich hältst, Dragon! Ich bin nicht das nette Mädel, das einfach mal Pech gehabt hat. Ich habe keinen Schulabschluss und habe meinen Körper verkauft, noch bevor ich achtzehn war, und zwar, weil das die leichteste Möglichkeit war, an Geld für Drogen zu kommen. Ich habe es mit so ziemlich jedem Typen gemacht, der mich dafür bezahlt hat. Egal mit wem oder wo. Ich war eine Hure. Ich bin nicht wie die anderen Mädchen, die du kennst, und ich werde nicht länger vorgeben, eine andere zu sein, als ich bin. Das hier bin ich.“ Ihre Stimme war mit jedem Wort lauter geworden, nun schrie sie fast.
Als die erste Träne fiel, spürte sie die Scham bis in ihr tiefstes Inneres. Sie drehte ihm den Rücken zu.
„Und jetzt geh einfach“, flüsterte sie.
Lange Zeit war es vollkommen still in dem Zimmer. Sie wischte sich über die Wangen und zuckte nicht einmal zusammen, als ihre Finger den Bluterguss berührten. Plötzlich legten sich starke, sanfte Hände auf ihre Schultern und drehten sie um. Bevor sie ihn aufhalten konnte, zog er sie in seine Arme.
„Ist schon okay“, flüsterte er.
„Es ist nicht okay!“, murmelte sie an seinem T-Shirt. Es roch nach warmer Haut und Weichspüler.
„Alles wird gut. Das verspreche ich.“ Er streichelte ihr kurzes Haar. „Du bist keine Hure, Violet. Du bist nicht böse, und du hast das nicht verdient. Wenn du versuchst, mich zu vergraulen, dann musst du dir wirklich was Besseres einfallen lassen.“
Langsam sah sie zu ihm auf. „Wer bist du?“
„Nur irgendein
Weitere Kostenlose Bücher