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Jenseits aller Tabus

Jenseits aller Tabus

Titel: Jenseits aller Tabus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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belastete Lucille. Sie hielt sie nicht länger aus, drehte sich auf den Rücken und blickte zu Craig auf. Ein tiefer Schmerz spiegelte sich in seinem Gesicht, der sie erschütterte.
    »Manche Wunden heilen nie«, sagte sie aus eigener Erfahrung so sanft wie möglich.
    »Mein Dad ist erst vier Monate tot.« Die Narben waren also noch frisch. »Es tut weh, in der Vergangenheit über ihn zu sprechen, wenn seine Freunde zu Besuch kommen.«
    Etwas zu leichtfertig fragte sie: »Der Mann, der eben gegangen ist?«
    Überrascht hob Craig seine Augenbrauen.
    Um die Situation herunterzuspielen, bemühte sie sich um ein unverfängliches Lächeln. »Er verhielt sich nicht gerade leise.«
    »Jack ist ein Raubein. Tut mir leid, wenn wir dich geweckt haben.«
    »Du brauchst dich nicht für ihn zu entschuldigen«, stellte sie klar, erschüttert, zu hören, dass Caruso mit Ted Bellamy befreundet gewesen war. Um zu erfahren, ob er einen Decknamen benutzte, hakte sie nach: »Wie lautet sein Nachname?«
    Misstrauisch krauste er seine Stirn. »Hernandez. Kennst du ihn etwa?«
    Lucille spürte eine Spannung zwischen ihnen und schüttelte rasch den Kopf. Was zum Henker hatte Caruso mit Ted Bellamy zu schaffen? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Nicht ganz uneigennützig schlug sie vor: »Vielleicht sollte er nicht mehr kommen. Er reißt deine inneren Verletzungen immer wieder auf.«
    »Sie werden sowieso bluten, bis …« Er sprach nicht weiter.
    Beinahe zornig betrachtete er das Foto in seiner Hand, aber Lucille ahnte, dass sich seine Wut nicht auf seinen Vater bezog. Welches Schicksal hatte Ted ereilt? Sie setzte sich aufrecht hin und klopfte auf die Bettkante. »Setz dich. Bitte erzähl mir von ihm.«
    »Von Dad?« Einige Sekunden lang musterte er sie zweifelnd. Doch dann nahm er neben ihr Platz. Tonlos begann er von unverfänglichen Gewohnheiten zu erzählen: »Mein Dad sagte manchmal, er würde für ein Glas Scotch töten, aber das war natürlich Unsinn. Wenn ein alter Song von Black Sabbath oder Led Zeppelin im Autoradio lief, drehte er es auf und grölte laut mit, obwohl er wusste, dass er keinen einzigen Ton traf. Er war ein Gentleman der alten Schule, hielt jeder Frau die Tür auf und sparte nicht mit Komplimenten.«
    »Ich hätte ihn sicher gemocht.«
    »Er war überall beliebt. Aufgrund seiner Frohnatur glaubten einige Bekannte, er sei ein Lebemann, jemand, der auf der Überholspur lebt, aber diese Menschen kannten ihn nicht. Sie dachten, er hätte eine Geliebte in jedem Hafen, da er beruflich oft verreisen musste und mit den Frauen flirtete, doch das tat er gar nicht, sondern er mochte es einfach, anderen Menschen ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Er blieb meiner Mutter treu, dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen.« Er holte tief Luft. »Auch nach ihrem Tod.«
    Er stockte, und Lucille berührte seinen Arm. Mildred Bellamys grausame Ermordung musste für Craig und seinen Vater kaum zu ertragen gewesen sein.
    »Zu Hause verhielt er sich ganz anders«, fuhr er in nüchternem Tonfall fort. »Da zeigte er sein wahres Gesicht, und das war liebevoll, warmherzig und häuslich. Hatte meine Mom spontan Lust auf einen Milchshake von Stacey’s, fuhr er sofort los und besorgte ihr einen Becher. Er guckte zigmal Doktor Schiwago mit ihr, dabei stand er mehr auf Der Flug des Phönix und Zwei glorreiche Halunken.«
    Scheinbar hatten alle Bellamy-Männer zwei Gesichter, unkte Lucille in Gedanken. Craig wirkte auf den ersten Blick chaotisch, etwas »durch den Wind«, doch in Wirklichkeit war er diszipliniert.
    Craig musterte Lucille. In seinen Augen bemerkte sie denselben Schmerz wie zuvor, aber diesmal mischte sich Hass darunter. »Mit den Jahren glaubte er immer mehr, dass wir seine Oase in einer Wüste des Bösen waren. Er hatte zu viel gesehen.«
    Lucille fragte sich, was er damit meinte, denn es klang, als hätte Ted noch mehr Unheil als den brutalen Mord an seiner Frau erlebt, wagte jedoch nicht, Craig zu unterbrechen.
    »Ich habe oft zu ihm gemeint, er solle sein Leben von Grund auf ändern, wusste aber, dass sein Pflichtgefühl zu groß war, um diesen Schritt zu wagen.« Er öffnete seine Faust, ließ den Trauerflor hängen und betrachtete ihn, doch an seinem Blick erkannte Lucille, dass er in Gedanken weit weg war. »Hab ihm geraten, wenigstens kürzerzutreten. Als er vor vier Monaten meinte, er würde in Caracas Urlaub machen, habe ich ihm nicht geglaubt. Wenn ich ehrlich bin, tue ich das immer noch nicht, obwohl mir

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