Jenseits aller Tabus
zog die Schublade der Nachtkonsole heraus und zeigte auf das Buch, das Alex Fisher ihr geschenkt hatte. »Forensik für Anfänger« stand in großen roten Lettern auf einem schwarzen Cover. Unter dem Titel waren ein Fingerabdruck, Reifenspuren und Blutspritzer zu sehen. Mit unschuldigem Augenaufschlag tastete sie sich behutsam weiter vor: »Ich interessiere mich zurzeit für das Thema.«
Sein Blick wurde intensiver. »Wieso ausgerechnet dafür?«
»Fernsehserien.« Eigentlich hatten die Ermittlungen gegen ihre eigene Person ihr Interesse geweckt. Mit gespielter Naivität hakte sie nach: »Wird nicht jede Leiche forensisch untersucht?«
»Nur wenn der Verdacht eines Verbrechens besteht.« Er neigte sich über Lucille, stützte sich rechts und links neben ihr ab und blickte ihr tief in die Augen.
Er war auf der richtigen Fährte, hoffte Lucille. Verbrechen gehörten zu Carusos Geschäft. Natürlich konnte sie sich nicht sicher sein, dass Ted Bellamy tatsächlich ermordet worden war. Aber wenn, dann hatte Craig ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.
»Auf dem College hatten wir eine Austauschstudentin aus Kolumbien, und sie behauptete, dass neunzig Prozent der Toten in Südamerika auf das Konto irgendwelcher kriminellen Banden gehen, nur zehn Prozent sterben an einer natürlichen Ursache. Aber die meisten Bluttaten würden nicht aufgedeckt werden, weil viele Polizisten und Richter von den Banden korrumpiert werden.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ob das stimmt, weiß ich natürlich nicht. Ich dachte nur …«
»Du solltest es erwähnen«, führte er ihren Satz zu Ende. Eine stoische Ruhe ergriff Besitz von ihm, die ein wenig Angst einflößend auf Lucille wirkte. »Das kriminaltechnische Labor hat die Überreste meines Vaters tatsächlich untersucht und keine Anzeichen auf Fremdeinwirkung gefunden.«
Hatte das FBI, das in solchen Fällen automatisch eingeschaltet wurde, auch Zweifel daran gehabt, dass Ted Bellamy bei einem Unfall ums Leben gekommen war, oder gehörte das zur Routine? Lucille musste Alex danach fragen.
»Auch toxikologisch?« Ihr Hals fühlte sich eng an. Sie wagte sich viel zu weit vor. Craig schöpfte jetzt schon Verdacht, das spürte sie. Aber irgendwie musste sie es schaffen, ihn auf das Drogenkartell hinzuweisen, ohne die Karten offenzulegen.
Seine Kiefer mahlten. »Nein. Die Explosion war die Todesursache. Es gab keinen Grund, nach Giften zu suchen.«
»Sicher?« Nervös nestelte sie an der Bettdecke.
Er blinzelte. »Ich habe den Bericht der Gerichtsmedizin gelesen, ein Toxikologe wurde nicht bemüht.«
»Hm«, machte sie nur und tat, als würde sie grübeln, dabei wollte sie ihn dazu bringen, über die Hinweise, die sie ihm gegeben hatte, nachzudenken und selbst eins und eins zusammenzuzählen. Das Kartell hieß nicht umsonst übersetzt Der Stich des Skorpions. Es verschleierte manche Tötungen nicht nur durch eine Überdosis Drogen, sondern auch durch Unfälle. Aber immer – immer! – hinterließ es seine Signatur. Vermutlich war sie der Rechtsmedizin entgangen. Es sei denn, die Vendetta ging auf Carusos Privatkonto.
»Und du kanntest Hernandez wirklich nicht?«, fragte sie ein zweites Mal.
»Nein, das sagte ich doch.« Craig legte seinen Kopf schief.
»Ist schon komisch. Dein Dad und ihn verband eine so enge Freundschaft, dass Hernandez ihm seine Jacht samt Crew zur Verfügung stellte, und du hast diesen Mann noch nie zuvor im Leben gesehen.« Sie reckte sich theatralisch. Gähnend schlängelte sie sich unter die Satindecke. »Lass uns schlafen. Du hast mich im Gewächshaus ganz schön geschafft.«
»Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch ein Auge zumachen kann.« Er setzte sich wieder schräg zu ihr und massierte gedankenversunken seine Hände.
»Vergiss, was ich gesagt habe«, schloss sie die Unterhaltung ab und wusste, dass sie damit genau das Gegenteil erreichte.
Sie hatte die Saat des Zweifels in ihm gesät und brauchte nur zu warten, bis sie aufging.
33. KAPITEL
Craig fröstelte, dabei hatten die Meteorologen für diesen Tag sechsundzwanzig Grad vorausgesagt, und die Sonne stand schon hoch am Himmel, obwohl es erst elf Uhr vormittags war. Wahrscheinlich liegt es an der Umgebung, dachte er und beobachtete den kleinen Raupenbagger, der über den Friedhof auf das Grab seines Vaters zufuhr.
Er hatte den Quatsch, den er Lucille vor einer Woche aufgetischt hatte, selbst nicht geglaubt. »Ein Unfall. Bullshit!« Nie hatte er an die Theorie eines Unglücks geglaubt,
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