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Jenseits aller Tabus

Jenseits aller Tabus

Titel: Jenseits aller Tabus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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Mit geschlossenen Augen lag Lucille in der Badewanne, den Hinterkopf hatte sie auf den Badewannenrand gelegt. Das Bild des kreidebleichen Special Agent Tadhg McCarthy wollte nicht verblassen, obwohl sein Tod nun schon mehr als neun Stunden zurücklag und sie sich längst wieder in der Bellamy-Villa befand. Das Loch in seiner Stirn, sein leerer Blick, seine kühle Haut – all das hatte sich auf ewig in ihr Gehirn eingebrannt. Und sie selbst hatte nur einen leichten Streifschuss erlitten.
    »War es nicht?« Craig, der ihr gegenüber in der Wanne saß, spreizte seine Beine und schob sie unter ihren hindurch, sodass seine Füße rechts und links für ihr Gesäß als eine Art Puffer zum Rand fungierten.
    »In Boston habe ich mal einen Obdachlosen gefunden. Er hatte nachts bei Minus achtzehn Grad vor dem Eingang des Cafés Kassandras Kitchen , in dem ich damals als Kellnerin jobbte, geschlafen und war erfroren.« Sie wunderte sich selbst über ihre tonlose Stimme, denn innerlich war sie immer noch aufgewühlt. »Aber das heute war etwas anderes. Den Stadtstreicher kannte ich nicht, McCarthy schon.«
    Stille trat ein, die Lucille immer unangenehmer wurde, je länger sie andauerte.
    Außerdem befürchtete Lucille, Craig könnte nachhaken, wieso sie Kontakt zu einem Bundesagenten hatte. Um abzulenken und die Situation aufzulockern, sagte sie: »Der Schlag, mit dem du den Schützen ausgeknockt hast, wirkte sehr gekonnt.«
    »Den hast du mitgekriegt?« Craig räusperte sich. »Der Cruiser trieb ja weiter, ich dachte, wir wären längst am Coffeeshop vorbei gewesen. Du hast es bei der Vernehmung nicht erwähnt.«
    »Woher willst du das wissen? Sie haben uns doch getrennt befragt.«
    »Weil sie mich sonst wegen unnötiger Gewalt in die Mangel genommen hätten.«
    Lucille öffnete ihre Augen, setzte sich aufrecht hin und schob etwas Badeschaum, der einem Eisberg ähnelte, in Craigs Richtung. »Es war nur gerecht. Außerdem hätte der Kerl dich garantiert weiter attackiert.«
    An das Verhör wollte sie lieber nicht mehr erinnert werden. Zuerst hatte die Wasserschutzpolizei sie befragt, dann die Cops vom Cape Coral Police Department und schließlich das Federal Bureau of Investigation. Selbstvorwürfe quälten den armen Alex Fisher, weil er Lucille allein gelassen hatte, als es darauf angekommen war, aber McCarthy hatte ihn schließlich weggeschickt. Was hätte er machen sollen? Ihn traf keine Schuld.
    »Glücklicherweise hast du kein zweites Mal geschossen.« Einige Sekunden lang tauchte Craig kurz unter. Als er die Wasseroberfläche durchbrach, stieß er prustend die Luft aus seinen Lungen aus und wischte sich den Schaum von den Haaren.
    »Ziemlich dumm von mir, dir in die Schusslinie zu laufen.«
    »Es war die richtige Entscheidung.« Sie hatte ja kaum die Hände ruhig halten können. Bestimmt hätte Caruso eher sie getroffen als sie ihn. »Ich verdanke dir mein Leben.«
    Craigs breites Lächeln flackerte und wurde immer kleiner, wie eine Flamme, die nicht genug Sauerstoff bekam. Zögerlich gestand er: »Ich muss dir etwas beichten.«
    Plötzlich wurde Lucille kalt, und sie rutschte so tief, dass das heiße Wasser ihr bis unters Kinn reichte. Der Duft von Mandeln, Nelken und Zimt stieg ihr in die Nase. Ihr fielen all die Ungereimtheiten in Bezug auf Craig ein – die Waffen im Tornadobunker, der unwahrscheinliche Zufall, dass sowohl Ted als auch Mildred Bellamy ein tragischer Tod ereilt hatte, den Martial-Arts-Schlag, mit dem er Caruso ins Land der Bewusstlosigkeit geschickt hatte, und die SIG, die er bei sich getragen hatte und die höchstwahrscheinlich aus dem Arsenal im Bunker stammte, das er angeblich nur als Andenken an seinen Vater aufbewahrte.
    Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein, kam Lucille in den Sinn. Zu viele Geheimnisse standen zwischen ihnen, auch von ihrer Seite aus.
    »Nach all der Zeit, die wir miteinander verbracht haben, fällt es mir nicht leicht.« Die Worte tropften träge aus seinem Mund, sie kamen ihm offenbar schwer über die Lippen. »Ich hätte früher mit dir darüber sprechen müssen, aber auch für mich waren … sind einige Dinge unklar.«
    Ihr Herz schlug schneller. »Wovon redest du ?«
    »Ich habe viel erlebt, zu viel, das hat mich geprägt. Mit den Jahren habe ich mich immer mehr zurückgezogen, bin verschlossen geworden.« Er erzeugte sanfte Wellen, indem er seinen Arm an der Wasseroberfläche bewegte wie eine Seeschlange, die durchs Meer glitt. Leises Plätschern hallte von den

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