Jenseits aller Tabus
wartete. Agent Tysdale, ein groß gewachsener Mann mit Schlupflidern, verstaute ihr Gepäck im Kofferraum und nahm hinter dem Steuer Platz. McCarthy, der sich die aktuelle Ausgabe der Washington Post, die so durchweicht war, dass sie sich an den Seiten bog, über den Kopf hielt, schob Lucille unwirsch auf den Rücksitz, knallte die Wagentür zu und setzte sich fluchend auf den Beifahrersitz.
Agent Tysdale aktivierte die automatische Verriegelung und erklärte über seine Schulter hinweg: »Damit niemand unterwegs die Türen von außen öffnen kann.«
»Und Sie nicht fliehen können«, fügte McCarthy schroff hinzu und schüttelte seine nassen Haare wie ein Hund sein Fell.
Lucille lehnte sich zurück, damit sie keine Tropfen abbekam, und wischte sich die Feuchtigkeit vom Gesicht. Mithilfe von Atemübungen und aufgrund ihrer Willensstärke schaffte sie es, dass ihre Tränen versiegten. McCarthy würde seine Genugtuung nicht bekommen.
Sie schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er hatte ein Gesicht wie ein Frettchen: spitz zulaufender Mund, scharfe Eckzähne wie Stalaktiten, als hätte er sie gefeilt, um gefährlicher auszusehen, und Augen, die tiefschwarz waren. Sollte es stimmen, dass die Augen die Fenster zur Seele eines Menschen waren, war es nicht gut um sein Inneres bestellt.
»Kirby Lamar, so werden Sie ab sofort heißen.« Er warf die nasse Zeitung neben sie auf den Rücksitz.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte Lucille, dass eine ID-Card, ein Pass und ein One-Way-Flugticket darauf lagen. »Kann ich mir den Namen nicht aussuchen?«
»Sie sind hier nicht bei »Wünsch dir was«, sondern in der Obhut des FBIs. Ihr Mitspracherecht beschränkt sich auf › Ja, Sir ‹ .« Er lachte und sah zu Tysdale hinüber.
Wenn er erwartet hatte, dass der weitaus jüngere Agent in sein Gelächter einstieg, hatte er sich getäuscht. Tysdale schaltete die Scheibenwischanlage an, fuhr los und konzentrierte sich auf die Straße.
Diese Nacht-und-Nebel-Aktion ging Lucille gehörig gegen den Strich, aber sie musste sich fügen, wenn sie endlich aus der Schutzhaft entlassen werden wollte. Ohne sie vorher zu informieren, war McCarthy um drei Uhr nachts in ihre Zelle gestürmt und hatte ihr eine Stunde zum Packen gegeben. Nun fuhr Lucille durch die Straßen Washingtons zum Reagan National Airport, um nach – sie nahm das Ticket und las den Namen des Zielortes – Fort Myers in Florida und in ein neues Leben zu fliegen. Ein geliehenes Leben. Nur bis zum Prozess würde sie Kirby Lamar sein und danach wieder eine neue geheime Identität annehmen müssen, diesmal für immer. Um zu überleben. Nie wieder würde sie zu Alfie und ins Kassandras Kitchen zurückkehren können.
Lucille meinte, keine Luft mehr zu bekommen, und öffnete die zwei oberen Knöpfe ihrer Jacke. Ihre Augen wurden erneut feucht. Verzweifelt versuchte sie, nicht zu schluchzen, damit McCarthy nichts von ihrer Verzweiflung und Traurigkeit mitbekam. Sie starrte die Regentropfen an, die am Seitenfenster herunterrannen, und stellte sich vor, der Himmel würde für sie weinen, um zu verhindern, dass sie es tat.
Es verwunderte sie, dass sie überhaupt noch Tränenflüssigkeit übrig hatte. Ihre Traumwelt hatte schon während der Ehe mit Richard Risse bekommen, doch sie war endgültig zerbrochen, als die Bundesagenten sie darüber aufklärten, dass er ein Waffenhändler war, der nicht nur die US-Armee belieferte, sondern auch heimlich die La picadura del escorpión, ein Drogenkartell, das für viele Massengräber in Venezuela und Kolumbien verantwortlich war. Mit Schaudern erinnerte sich Lucille an die Fotos, die man ihr gezeigt hatte, Bilder von Leichen, die mehr oder minder verwest waren. Sogar Frauen und Kinder waren unter den zahlreichen Toten gewesen. Bei einigen hatten die Rechtsmediziner Spuren von Vergewaltigung und Folter nachgewiesen, bei einigen der jüngeren Leichen Skorpionsgift. Hauptabsatzort der Drogen war die Ostküste der USA, an der Lucille mit Richard gewohnt hatte.
Jetzt kannte sie auch den Grund für Carusos Interesse an ihrem Tattoo: der Stich des Skorpions, wie das Kartell übersetzt hieß. Ausgerechnet über ihre Tätowierung hatte sie Richard kennengelernt. Als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Kartell hatten sich die beiden Männer selbst Skorpione stechen lassen. Um sich von der Organisation zu distanzieren, aber auch, um den Fehler ihres Lebens irgendwann vergessen zu können, hatte Lucille damit begonnen, ihr Tattoo entfernen zu lassen, nachdem
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