Jenseits aller Tabus
das Bureau ihre Unschuld anerkannt und die Erlaubnis dazu gegeben hatte.
Vor anderthalb Jahren war sie eine Studentin und Kellnerin in Boston gewesen. Nun war sie eine Zeugin im Prozess gegen den Händler des Todes und schwebte in Lebensgefahr. Das alles kam Lucille so unwirklich vor.
Richards Kartell-Tätowierung hatte sie nie entdeckt. Erst das FBI hatte ihr das Tattoo auf einem Foto gezeigt. Der Skorpion schlang sich um seinen Ringfinger und wurde zuerst von einem breiten Ring aus Weißgold und später von seinem Ehering verdeckt. Im Nachhinein wurde ihr bewusst, dass er in Wirklichkeit nicht mit ihr, sondern mit dem Drogenkartell liiert war.
Sie dagegen war nur ein Projekt gewesen, ein Experiment, um die wenige Freizeit, die er hatte, interessant zu gestalten. Mal sehen, was wird aus der Kleinen, die ganz unten ist, wenn sie plötzlich alles haben kann. Waren das seine Gedanken gewesen? Mitleid konnte es jedenfalls nicht gewesen sein, denn Mitgefühl war Richard Dawson fremd. Mindestens fünf Morde gingen auf sein persönliches Konto. Wenn er konnte, würde Lucille wohl sein Opfer Nummer sechs werden.
Vielleicht hatte er auch an ihr testen wollen, was aus ihm, dem Jungen aus der Gosse, geworden wäre, wenn er einen Protegé gehabt hätte. Aber er war immer auf sich allein gestellt gewesen und hatte sich hochgekämpft – mit allen Mitteln.
»Aber ich werde dich Cilly nennen; wie › silly ‹ , nur mit C, weil es albern und töricht ist, etwas zu verbergen, das deinen Charakter so sehr geprägt hat wie vermutlich nichts anderes in deinem Leben. So ist es doch, nicht wahr?«, hatte er gesagt, als er ihre Narben entdeckt hatte. Wie heuchlerisch! Er selbst hatte sich hinter der Fassade des seriösen Geschäftsmannes versteckt, wie seine martialischen Tattoos unter seinem Hemd.
Caruso hatte einmal zu ihr gemeint, Richard hätte einen Narren an ihr gefressen und dass er ihre Tätowierung als Zeichen des Schicksals betrachtete, als wäre sie seine Seelengefährtin. Doch das war nur die Hoffnung eines armen reichen Mannes, den in Wahrheit die Einsamkeit quälte, vermutete Lucille.
Richard stammte aus New Hampshire und hatte gesagt, das offizielle Motto des Staates, das auf jedem Nummernschild stand, sei seine Devise: »Lebe frei oder stirb«. Das hatte ihr zuerst imponiert. Richard war der Inbegriff von Nonchalance, und Lucille träumte davon, ebenso locker und selbstbestimmt zu sein.
Als das Ermittlungsbüro sie ein letztes Mal in sein Apartment ließ, damit sie einige wenige Sachen zusammenpacken konnte, sah sie, dass mit ihrem Lippenstift auf den Badezimmerspiegel geschrieben stand: »Ich lebe frei, oder du stirbst.« Es war eine Botschaft an sie, und sie kam von Richard – obwohl er in Untersuchungshaft saß.
Lucille fuhr das Seitenfenster einen Spaltbreit herunter und atmete die feuchte Luft ein, die ins Wageninnere drang. Ein Wolkenband klebte schon seit zwei Tagen über Washington, D. C., und tauchte die Hauptstadt in Nieselregen, der schlimmer war als kurze, heftige Schauer, weil man, ohne es zu merken, nach kurzer Zeit nass bis auf die Haut war.
Sie legte ihre Fingerspitzen an die Fensterscheibe, als wollte sie einen sinnlosen Versuch wagen, die herunterfließenden Tropfen aufzuhalten. Melancholischer Niederschlag, leise und traurig.
»Special Agent Alex Fisher wird Sie auf dem Southwest Florida International Airport abholen und unauffällig ein Auge auf Sie haben. Aber Ihr Kontaktmann bleibe ich! Sie werden nichts tun, ohne mich vorher zu informieren.« Mit einem sarkastischen Lächeln in der Stimme fuhr McCarthy fort: »Ich werde Sie regelmäßig besuchen kommen, um unsere netten Gespräche fortzuführen.«
Würden die Verhöre jemals aufhören? Lucille wurde das Gefühl nicht los, dass der Agent sie so lang vernehmen würde, bis sie ihm sagte, was er hören wollte. Darauf konnte er lange warten!
Lästig wie eine Zecke, dachte sie, blinzelte ihre Tränen weg und erinnerte sich daran, wie Richard sich auf dem Schießstand von hinten an sie geschmiegt, gemeinsam mit ihr die Glock gehalten und leise in ihr Ohr gesprochen hatte: »Es kommt auf die richtige Atemtechnik an, Baby. Du musst ruhig ein- und wieder ausatmen und dann schießen. Nicht der schnellste Schütze gewinnt ein Duell, sondern derjenige, der am entspanntesten bleibt.«
4. KAPITEL
Cape Coral, Anwesen des Schmocks
Lucille wunderte sich, dass Ava sie schon um kurz vor fünf Uhr zum Abendessen holen kam. Den ganzen Tag hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher