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Jenseits aller Tabus

Jenseits aller Tabus

Titel: Jenseits aller Tabus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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herunterfahren ließ, um sich in den Chesterfield-Ohrensessel vor den prasselnden Kamin zu setzen und von der Heimat seiner Mutter – und vermutlich von Mildred Bellamy selbst – zu träumen. Craig machte verrückte Dinge, zum Beispiel seinem neuen Dienstmädchen ein erotisches Abkommen vorzuschlagen, wieso nicht auch das?
    Zu allem Übel machte diese Verschrobenheit ihn nur noch interessanter für sie.
    Obwohl es das Abstauben erforderlich gemacht hätte, hatte Lucille das Oberlicht nicht angeschaltet, sondern lediglich die Lampen auf dem Kamin, dem Beistelltisch und dem Sideboard. Die Bibliothek wurde in ein warmes, behagliches Licht getaucht, während draußen die Sonne bereits fast vollständig hinter dem Horizont verschwunden war.
    Neugierig nahm Lucille eine Fotografie nach der anderen in die Hand, wischte beiläufig die Rahmen ab und betrachtete jede einzelne eingehend.
    Das Hochzeitsbild seiner Mutter und seines Vaters, das so stark retuschiert war, dass es künstlich wirkte.
    Mildred, die Baby Craig auf dem Arm hielt. Ted – Ava hatte ihr den Namen von Craigs Vater verraten – umarmte seine Frau von hinten und hielt Craig seinen Zeigefinger hin, den der Kleine mit seiner ganzen Hand umschlang.
    Craig mit ungefähr fünf Jahren, der zwischen seinen Eltern über irgendeinen Strand spazierte und beide an der Hand gefasst hatte.
    Craig, inzwischen so groß wie sein Dad, gehüllt in einen schwarzen Talar; er pustete die Quaste seines Baretts weg und hielt gleichzeitig halbherzig sein Highschool-Diplom hoch. Ted Bellamy hatte die Hand auf seine Schulter gelegt und blickte stolzer in die Kamera als sein Sohn.
    Ted in Badehose am Swimmingpool. Obwohl er inzwischen graue Schläfen und ein Bäuchlein hatte, wirkte er immer noch sportlich. Nur sein Strahlen war verschwunden. Er lächelte zwar in die Fotokamera, aber sein Lächeln wirkte müde. Lucille blinzelte. War das da eine Narbe auf seiner Hüfte? Kreisrund, wie von einer Schussverletzung. Oder nur die vernarbte Eintrittswunde, durch die ein Endoskop während einer Operation eingeführt wurde.
    Im nächsten Rahmen befand sich keine Aufnahme, sondern ein Zeitungsausschnitt. Round Texel, die größte Katamaran-Regatta der Welt: »Die Bellamys kommen als Letzte ins Ziel«, titelte der Artikel. Das Schwarz-Weiß-Foto daneben zeigte Craig, längst erwachsen, und seinen Vater auf einem Segelkatamaran im Hafen, einer nasser und abgekämpfter als der andere, trotzdem prosteten sie sich mit Kindercola zu. Im Hintergrund waren dunkle Wolken zu sehen.
    Lucille vermisste Mildred auf den letzten drei Fotografien und ließ ihren Blick über die Bilderrahmen gleiten. Craigs Mutter musste recht früh verstorben sein – und plötzlich, denn es gab keine Schnappschüsse, die eine Krankheit belegten; es sei denn, Craig hatte sie weggeräumt, um sich nur an die guten Zeiten zu erinnern.
    Erschrocken zuckte sie zusammen, als auf einmal ein Arm um sie herumgriff und ihr den Rahmen mit dem Zeitungsausschnitt aus der Hand nahm. Craig stand dicht hinter ihr. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie ihn nicht hatte kommen hören, zudem dämpfte der Teppich die Schritte.
    »Sie sind sehr neugierig, Kirby.« Seiner Stimme hörte sie an, dass er nicht böse mit ihr war. Er betrachtete das Schwarz-Weiß-Foto eingehend.
    »Hat Ihre Mutter Sie nicht im Zielhafen empfangen?«, fragte sie betont unschuldig.
    »Damals weilte sie schon nicht mehr unter uns.«
    »Sie sind noch nicht über ihren Tod hinweg, habe ich recht?«
    Er stellte den Rahmen zurück auf den Kamin. »Jeder Verlust ist schmerzhaft.«
    Das konnte Lucille nicht bestätigen. Als ihr Vater kurz nach ihrem dritten Geburtstag ging, um mit seiner neuen Familie zusammenzuleben, tat es zwar noch weh, und im Gegensatz zu ihrer Mutter heulte sich Klein Lucille die Augen aus, bis sie keine Tränen mehr übrig hatte. Er ließ nie wieder etwas von sich hören. Doch als das Sozialamt sie mit fünf Jahren von ihrer Mutter wegholte, spürte Lucille nichts. Auch nicht, nachdem sie mit achtzehn ihrer Pflegefamilie den Rücken kehrte.
    Aus dem Augenwinkel schaute sie auf das Bild mit dem kleinen Craig, der mit seinen Eltern über den Strand spazierte und von einem Ohr zum anderen grinste. Er musste damals ungefähr im selben Alter gewesen sein wie sie, als sie nach ihrem Dad auch ihre Mom verlor. Und gleichzeitig ein Martyrium aufhörte und das nächste anfing. Die Narben an ihren Oberschenkeln schmerzten mit einem Mal so stark, als wären sie

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