Jenseits aller Vernunft
meinem Haar verfangen, und ich dachte schon, ich würde sie nicht befreien können, ohne mich zu skalpieren.«
Er lachte, ein angenehmes Scheppern im Dunkeln. »Das kann ich mir durchaus vorstellen.« Verdammt, so hatte er es gar nicht gemeint, wie es sich jetzt anhörte. Die Worte hingen in der Luft, und er hielt den Atem an, um abzuwarten, ob er sich falsch ausgedrückt hatte.
Lydia, die empfindlich war wegen ihres ungewöhnlichen Aussehens, mi ss verstand ihn. »Ich weiß, dass mein Haar... anders ist... Es ist nicht wie... maisfarbene Seide.« Nicht wie Victorias, dachte sie niedergeschlagen.
»Es ist sehr hübsch«, sagte er leise, indem er seine Finger bewegte, als vergrübe er sie in ihren Locken.
»Danke«, flüsterte sie, und Tränen traten in ihre Augen. Er machte ihr nur selten Komplimente. Dieses wusste sie zu schätzen.
»Gern geschehen.« Du verdammter Heuchler, dachte er bei sich. Hier produzierst du höfliche Sprüche, dabei denkst du die ganze Zeit an ein Schäferstündchen mit dieser reizenden Kleinen. Verärgert über sich selbst, druckste er ein knappes »Gute Nacht« heraus und drehte sich zur Wand.
Eine ganze Weile lagen sie schweigend voneinander abgewandt. Ross schien die Augen einfach nicht schließen zu können. Schließlich hörte er an ihrem ruhigen Atem, dass sie eingeschlafen war.
Das hat alles keinen Sinn, dachte er, rollte auf den Rücken und hoffte, damit den Teil seines Körpers zu entlasten, der ihn gnadenlos an der Nachtruhe hinderte. Seine Männlichkeit hielt ihn
hart und aufdringlich wach wegen seiner dummen, selbstauferlegten Verleugnung. Im Lauf der langen, sich hinziehenden Stunden begann Ross sich selber dumm zu finden.
Sie hatte eine Vergangenheit. Er auch. Sie war nicht das, was Victoria gewesen, sondern war vieles, was Victoria nicht gewesen war. Ihre Heirat galt als legal. Angesichts der augenblicklichen Lage würde es vielleicht nicht einfach sein, sich scheiden zu lassen. Vielleicht würden sie noch eine Weile verheiratet bleiben. Und was würde er dann tun? Leben wie ein Mönch oder sich stundenweise Frauen mieten?
Er dachte an die einsame Nacht in Owentown und wusste , dass er das nicht wollte.
Lydia wollte er!
Und wenn er sie erst hatte, würde vielleicht alles besser. In der Nacht, als er sie besessen hatte, war er allerdings betrunken gewesen. Gaukelte ihm seine Einbildung etwa alles nachträglich schöner vor?
Wen versuchst du jetzt zu täuschen? So betrunken kann man gar nicht sein.
Doch immerhin hielten ihn diese Gedanken davon ab, sich jetzt gleich auf sie zu stürzen, sie wach zu küssen und...
Nein. Dann würde sie denken, dass er nur das von ihr wollte. Und sosehr sich sein Körper auch danach sehnte, war das doch nicht das einzige, was er brauchte. Er war inzwischen abhängig von ihrem ruhigen, ausgeglichenen Wesen, davon, dass sie für ihn kochte und immer wusste , wo was zu finden war, ganz zu schweigen von ihrer Liebe zu Lee. Das alles wollte er nämlich dazu. Und er mochte die Art, wie sie ihm zuhörte, wenn er erzählte. Er hatte es auch gern, wenn sie sich beim Abschied um ihn sorgte, so wie heute morgen. Er schätzte nicht nur die Nähe ihres Körpers, sondern auch die ihres lebhaften Geistes.
Eines war sicher: So konnte er nicht weitermachen, mit steifem Glied in der Hose und zerrissenen Gefühlen. Irgendwann würde sonst wieder so etwas Abscheuliches wie in der Nacht des Festes passieren, und jene Angst wollte er nie wieder auf ihrem Gesicht sehen, wenn es irgendwie vermeidbar war.
Morgen. Ab morgen würde er sie wie seine Frau behandeln, vielleicht würde sie sich dann auch sicherer fühlen und eines zum anderen kommen. Er könnte sie zum Beispiel mit einem Morgen Kuss überraschen. Ja. Morgen früh.
Mit dem Vorgeschmack des Kusses auf den Lippen schlief er ein.
Aber in der Früh war sie weg.
15
Mit einem Schlag wurde er wach und war auch nach den wenigen Stunden Schlaf ausreichend erfrischt.
Ross setzte sich auf und sah sofort zum Bett auf der anderen Seite des Wagens hinüber. Er blinzelte, weil er erst glaubte, nicht richtig gesehen zu haben, aber Lydias Bett war leer. Sein Herz begann heftig zu schlagen. Lee in seiner Kiste gab sich seligem Schlummer hin.
Lydia würde ihn nie freiwillig allein lassen. Und irgendwo in der Umgebung trieb sich ein Mörder herum. Ross zog umgehend die Segeltuchklappe auf. Nichts. Nirgendwo im Lager bewegte sich etwas. Er griff nach seiner Pistole, überprüfte routinemäßig, ob sie
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