Jenseits aller Vernunft
nicht einmal mehr am Leben, wenn es Euch nicht gäbe.«
Lydia und Ma umarmten sich noch einmal, und die Mädchen heulten laut, wobei sie sich an Lydias Röcke hängten. Micha und Samuel standen mit ernster Miene neben ihrem Vater.
Lydia hatte sich schon von den anderen Familien des Trecks verabschiedet. Eine nach der anderen waren sie in dem Hexenkessel von Jefferson verschwunden, auf dem Weg zum nächsten Ziel. Die Langstons würden früh am nächsten Morgen aufbrechen. Sobald sie ihren Wagen mit frischen Vorräten beladen hätten, würden sie an den westlichen Rand des Lagers fahren. Deshalb verabschiedeten sie sich bereits jetzt.
»Wir kommen und besuchen Euch. Ross hat schon gesagt, dass wir das einmal tun werden. Vielleicht in einem oder zwei
Jahren, wenn unser Haus fertig ist. Habe ich Euch erzählt, dass Moses mit uns kommen will? Er wird uns eine große Hilfe sein. Ross hatte längst vor, ihn zu fragen, da bot er es von sich aus an.« Sie redete zu viel und zu schnell, aber wenn sie jetzt aufhörte, würde sie bestimmt weinen.
»Ihr liebt ihn, Mädchen, stimmt’s?« fragte Ma ruhig, als Lydia Atem holte.
»Ja, ich liebe ihn. Bei ihm fühle ich mich...« Sie suchte nach den richtigen Worten, fand aber keine, mit denen sie ihren Gemütszustand hätte beschreiben können, seit Ross sie zuvorkommend behandelte. Er liebte sie nicht so, wie er Victoria geliebt hatte, aber er hatte sie sehr gern. »Durch ihn fühle ich mich rein und neu im Inneren. Respektiert und geehrt. Es ist nicht wichtig, was ich früher war.«
»Freilich liebt er Euch auch«, sagte Ma und tätschelte ihre Hand.
Sie schüttelte den Kopf. »Seine Liebe gilt immer noch Victoria.«
Ma wischte das mit einer Handbewegung beiseite. »Mag sein, dass er das glaubt, aber Ihr seid in seinem Bett. Bald wird er bemerken, dass Ihr es auch seid, die er liebt. Und aus der Art zu schließen, wie er in letzter Zeit immer seine Zähne blitzen lä ss t, wird das wohl nicht mehr allzu lange dauern. Als sie noch am Leben war, hat er nie so ausgesehen. Immer machte er den Eindruck, als habe er Sorgen, als koste es ihn die größte Mühe, sie glücklich zu machen. Ihr zwei werdet ein gutes Leben miteinander haben. Das weiß ich.«
»Das glaube ich auch, Ma.«
Die Ältere betrachtete Lydia eingehend. »Also, vor ungefähr einer Woche habe ich direkt geglaubt, Ihr wäret mir wegen irgendwas böse.«
Lydia wich Mas scharfem Blick aus. Es stimmte, dass sie es einfach nicht fertiggebracht hatte, Ma in die Augen zu sehen, seit sie wusste , dass Clancey Luke ermordet hatte. Ihr Schuldgefühl überschattete empfindlich diese Freundschaft. Sie hatte nicht gewu ss t, dass Ma etwas aufgefallen war. »Ich war Euch nicht böse, sondern hatte wahrscheinlich schon Angst vor dem Tag, an dem ich mich verabschieden und daran gewöhnen mü ss te, ohne Euch weiterzuleben.« Ihre Augen flössen über. »Ich liebe Euch, Ma, Euch alle.«
Ma nahm sie fest in die Arme. »Wir Euch auch, Lydia.«
Als sie sich voneinander gelöst hatten, umarmte Lydia auch jedes der Mädchen und schließlich sogar Zeke, der rot wurde wie ein Junge. »Pa ss t auf Euch auf, Lydia, Mädchen«, sagte er herzlich.
»Bubba hat gesagt, er würde später noch in Euren Wagen kommen und sich verabschieden«, meinte Ma und tupfte sich die Tränen mit ihrem Schürzenzipfel aus den Augenwinkeln. »Er wollte noch warten, bis Ross zurückkommt. Der Junge tut sich wirklich schwer, seinen Helden aufzugeben.«
»Ross kommt bestimmt bald aus der Stadt zurück. Ich muss mich mit dem Abendessen beeilen.« Sie nahm der widerwilligen Anabeth Lee aus den Armen, sah sie alle noch einmal an, um sich ihre freundlichen, liebevollen Gesichter einzuprägen, und spürte den Schmerz, dass Luke nicht bei ihnen war. Für immer würde sie seinen Tod auf dem Gewissen haben. Wenn sie nicht gewesen wäre...
»Auf Wiedersehen«, sagte sie und wandte sich ab, um nicht endgültig die Fassung zu verlieren.
Sie dachte an Clancey, als sie eilig durchs Lager zu ihrem Wagen zurückstrebte. Der Beutel mit den Juwelen muss te parat sein, ohne Zweifel würde Clancey noch einmal kommen deswegen. Sicherlich war er dem Treck gefolgt, seit er Winston erschossen hatte. Wann mochte er den Verlust seiner unrechtmäßigen Beute bemerkt haben? Er würde toben und zu Gewalttätigkeiten neigen. Lydia wollte vorbereitet sein auf seine Rückkehr und ihm den Schmuck ohne viel Federlesens aushändigen.
Inzwischen war sie überzeugt, dass Ross nichts von
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