Jenseits aller Vernunft
Porzellan vor, das Victoria unbedingt hatte mitnehmen wollen. Mit dem Kaffee in der Hand ließ er seine Gedanken weiterwandern.
Nein, Vance Gentry hatte es nicht gut aufgenommen, als seine Tochter sich in den Mann verliebte, den er für seine Ställe eingestellt hatte. Gentry wollte für Victoria einen Ehemann von ebenso gediegener Abstammung, wie sie selbst es war. Aber heiratsfähige Männer aus guten Südstaatenfamilien gab es im Augenblick wenige, dafür hatte der Krieg gesorgt. Victoria war mit ihrer Wahl glücklich gewesen, und im Laufe von ein paar Monaten hatten sich alle auf dem Gut an den schlichten Gatten gewöhnt. Alle außer Vance. Er war nie offen unhöflich, doch aus seiner Abneigung gegen den Schwiegersohn hatte er keinen Hehl gemacht.
Deshalb erzählte auch Victoria Ross erst von dem Baby, als ihr Vater kurz verreiste, um Pferde zu kaufen. Als daraufhin sein Land in Texas zur Sprache kam, war es ihre Idee gewesen fortzugehen, bevor ihr Vater zurückkehrte. Ross hatte sich Sorgen gemacht, um sie und das Kind; doch sie hatte ihm versichert, dass ihnen genug Zeit blieb, sich ordentlich einzurichten vor der Geburt. Und nun war das Unglück da, er hatte ein Baby, aber keine Victoria mehr.
Keine Victoria. Er versuchte sich vorzustellen, wie sein Leben ohne sie weitergehen sollte. Sie war völlig unerwartet in sein Leben getreten und hatte es ebenso unerwartet wieder verlassen. Für einige Zeit hatte sie ihm gehört und war ihm dann unvermittelt wieder entrissen worden. Jetzt würde kein Licht, kein Lachen, keine Liebe mehr in seinem Leben sein. Er würde nie mehr ihr Gesicht sehen, ihr Haar berühren, sie singen hören. Sie war unwiederbringlich verloren - wie konnte er damit fertig werden?
Um Lees willen würde er es müssen. Täglich verloren Männer ihre Frauen bei Geburten und warfen nicht die Flinte ins Korn. Auch er würde weiterleben. Er würde seinem Sohn ein gutes Leben bieten. Eins für sich und Lee. Sie zwei allein. Nein, nicht ganz...
Jetzt muss te er sich auch noch um diesen Eindringling kümmern.
Er trank den Kaffee aus und goss sich gerade die nächste Tasse ein, als Bubba Langston sich neben ihn hockte.
»Morgen, Ross.« Bubba hatte sich sehr reif und wichtig gefühlt, als der Mann, den er als sein Idol ansah, ihm das Du angetragen hatte.
»Bubba«, antwortete Ross abwesend.
»Glaubst du, heut gibt’s Regen?«
Sein grüner Blick musterte die dräuenden Wolken. »Vielleicht. Hoffentlich nicht. Ich bin den Regen leid. Er hält uns auf.«
Bubba räusperte sich. »Ich, äh, ... es tut mir wirklich leid wegen deiner Frau, Ross.«
Ross nickte nur. »Kaffee?« Ohne darauf zu warten, dass der Junge antwortete, goss er eine Tasse ein.
Sie tranken eine Weile schweigend. Auch andere Leute wachten auf. Holzrauch zog durch die feuchte Luft. Das Rasseln von Pferdegeschirr und das Schnauben der Tiere, das leise Gespräch von Paaren, bevor die Kinder wach wurden, das Klappern von Töpfen erzeugten eine gemütliche, beruhigende Morgenstimmung. Ross hatte trotzdem das Gefühl, dass ihm sein ganzes Leben plötzlich fremd geworden war.
»Hast du die Pferde schon versorgt?« fragte er den Jungen.
»Klar. Ich hab’ ihnen Hafer gebracht.«
»Danke, Bubba«, sagte Ross und lächelte zum ersten Mal. Er fragte sich, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn er in seiner Jugend einen Mann gehabt hätte, zu dem er hätte aufsehen können. Wahrscheinlich das gleiche. Manche Leute kamen in miserablen Verhältnissen zur Welt und muss ten sich durchs Leben quälen. Als Victoria Gentry sich in ihn verliebte und ihn heiratete, hatte er gedacht, dies wäre seine zweite Chance für einen Neubeginn. Jetzt war wohl Schluss mit dem Glück des Naiven. »Ich bin froh, dass du in diesem Treck dabei bist und mir bei den Pferden helfen kannst. Schließlich habe ich nur sie, um mein Leben wieder anzufangen und mir eine Herde aufzubauen, wenn wir in Texas sind.«
Das weißblonde Haar des Jungen hob sich in der Brise. »Bitte, Ross, selbst wenn du mich nicht dafür bezahlen würdest, dass ich sie versorge, würde ich mich freiwillig um sie kümmern. Pa will, dass ich ein Bauer werde wie er. Er ist entschlossen, einen neuen Platz für uns in Texas zu finden, wo es nicht jedes Jahr eine Überschwemmung gibt wie bei unserem alten Hof in Tennessee. Aber ich will kein Bauer werden. Ich will lieber mit Pferden arbeiten wie du!« Er goss sich noch eine Tasse Kaffee ein und war froh, dass sein Vorbild so viel Zeit für ihn hatte.
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