Jenseits aller Vernunft
wollt.«
Sie sah noch einmal nach Lee und legte sich nieder. Ross hatte sich am anderen Ende des Wagens ein zweites Bett gemacht, so weit wie möglich von ihr entfernt. Ich bin doch nicht giftig, lag ihr auf der Zunge, aber sie hatte sich beherrscht. Sie war zu aufgeregt durch die Ereignisse des Tages, durch ihren neuen Namen, ihre neue Ausstaffierung, um Streit mit ihm anzufangen.
»Danke für die neuen Kleider.«
»Keine Ursache«, sagte er rauh. »Aber ich wollte Euch nicht in den abgelegten Sachen der anderen herumlaufen lassen.« Er machte die Laterne aus, und sie hörte, wie er sich auszog und in sein Bett kroch.
Jetzt wo es so still war, dröhnte das Trommeln des Regens richtig laut. Heute morgen, als sie wieder eingeschlafen waren, hatte sie das Geräusch als tröstlich empfunden. Jetzt kam es ihr traurig vor. Lydia fühlte sich einsamer denn je: wenn er sich entschlossen hätte, sich neben sie zu legen, hätte sie ihn nicht daran gehindert. Im Dunklen drehte sie sich auf die Seite und versuchte zu erkennen, wo er lag. »Gute Nacht... Ross.«
Warum hat sie mich ausgerechnet jetzt zum ersten Mal bei meinem Namen genannt? Und warum klingt er aus ihrem Mund wie Musik? fragte sich Ross. Uber das Rauschen hinweg, das das Blut in seinen Adern auf dem Weg in seine Männlichkeit verursachte, konnte er kaum seine eigene Antwort hören. »Gute Nacht, Lydia.«
8
Der Mann setzte sich an einen angeschlagenen Tisch in dem verräucherten Saloon, breitete die welligen, gelben Blätter Papier darauf aus und begann, sie zu lesen. Sein Gegenüber setzte sich und sah sich gründlich um. Das gehörte zu seinem Beruf. »Whiskey?«
»Ja, bitte«, erwiderte ersterer abwesend, während er weiter die Blätter durchlas.
Er bekam nicht mit, wie Howard Majors dem Barkeeper ein Zeichen machte, eine Flasche und zwei Gläser zu bringen. Erst als Majors ihm sein Glas hinschob, sah er auf. Sein Gesichtsausdruck war verzerrt, als wäre er gerade aus einem bösen Traum erwacht. Im Nu hatte er den Inhalt des Glases hinuntergekippt. Obwohl er sonst bei starken Getränken zurückhaltend war, griff er diesmal selbst nach der Flasche, schenkte nach, go ss sich die nächste Portion sofort wieder in die Kehle. Dann sah er seinen Gastgeber ha ss erfüllt an.
»Und dieser Schuft hat meine Tochter geheiratet.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Fingernägel waren gepflegt, doch an der Art, wie er die Faust ballte, war sein Charakter leicht zu durchschauen. Er war gewohnt, sich durchzusetzen, sich und seine Umgebung zu beherrschen, sich nicht hintergehen zu lassen. »Herrgott! Wenn ich daran denke, dass er ihr Bett teilt!« Diesmal schlug die Faust noch kräftiger auf den Tisch, so dass die Flüssigkeit in der Flasche schwappte.
»War mir unangenehm, Euch die Dinger hier zeigen zu müssen«, sagte Majors mitfühlend. »Ich dachte sofort, ich hätte ihn auf dem Hochzeitsbild erkannt, das Ihr mir gezeigt habt; aber ich wollte ganz sichergehen, indem ich die Porträts vergleiche. Es gibt keinen Zweifel, dass es sich um denselben Mann handelt, auch wenn er jetzt einen Schnurrbart hat. Das Gesetz ist ihm seit Jahren auf der Spur. Die Agentur Pinkerton wurde schon mehrmals auf gef ordert, ihn ausfindig zu machen.«
»Ross Coleman ist in Wahrheit Sonny Clark«, sagte Vance Gentry bitter. »Meine Tochter ist verheiratet mit einem Revolverhelden, einem Gesetzlosen, einem Mann, der wegen Mordes und Bankraub gesucht wird... zur Hölle mit ihm!« Er ächzte, fuhr sich mit den Händen durch sein rötliches Gesicht und verzerrte die aristokratischen Züge unter seinem schneeweißen Haar. »Was hat er nur mit ihr gemacht?«
Wortlos schenkte Majors dem Mann nochmals nach, und er stürzte das Gebräu hinunter. »Wenn er ihr irgend etwas angetan hat, werde ich ihn umbringen.« Seine Lippen bewegten sich kaum, als er diesen Schwur aussprach. »Das wollte ich sowieso schon immer tun, wenn ich sah, wie er sie berührte. Von Anfang an wusste ich, dass er aus der Gosse stammt. Wenn er nicht so gut mit Pferden hätte umgehen können, hätte ich ihn nie eingestellt.« Er bi ss die Zähne zusammen. »Warum habe ich bloß nicht auf meine innere Stimme gehört?«
»Tja«, sagte der Pinkerton-Detektiv sachlich, »bevor wir irgendwas in die Wege leiten können, müssen wir sie erst mal finden.«
»Ein Wunder, dass er sie nicht umgebracht und sich mit ihrem Schmuck davongemacht hat.«
Der Mann erregte sich immer mehr, und das durfte Majors nicht zulassen.
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