Jenseits der Alpen - Kriminalroman
so groß war wie die der anderen beiden zusammen. Ihre Augen glänzten, als sie die erste Gabel umwickelte.
Agnes war Waller ein Rätsel. Sie konnte Unmengen essen, ohne ein Gramm zuzunehmen. Während dieser Tage in Italien hatte er sie etwas besser kennengelernt. In München hatte er die zierliche Frau nie beachtet, hatte kaum je mit ihr zu tun gehabt. Dort war sie eine Art Mädchen für alles. Dass sie auch mit Ermittlungsarbeit betraut wurde, war ihm persönlich neu. Und sie machte sich nicht schlecht. Ohne sie wäre er schon in manches Fettnäpfchen getreten und hätte das eine oder andere übersehen. Ganz abgesehen von ihrem perfekten Italienisch und ihren Übersetzungskünsten.
»Sie haben sich schon ganz schön italienisiert«, sagte sie mit vollem Mund zu ihm.
Überrascht blickte er auf. »Wie meinen Sie das?«
»Na, bei Ihrer Ankunft hier wollten Sie ja nicht einmal einen Espresso in der Flughafenbar trinken vor lauter Pflichtbewusstsein. Und jetzt essen wir ausgiebig Pasta, ohne auch nur einen Hauch von Selma gehört zu haben. Molto simpatico .«
Mariedda nickte zu den Worten von Agnes.
Waller war nicht ganz klar, ob sie verstanden hatte oder nur ihre Sympathie bezeugen wollte. Er wollte darauf nicht antworten. Agnes hatte recht. Er genoss dieses südliche Leben, dieses dolce far niente , das Nichtstun, wie es wörtlich hieß. Doch es war beileibe nicht so, dass er, der Kriminalhauptkommissar Waller, nichts tun wollte. Sofort nach dem Essen würden sie ans Werk gehen. Die Frau hinter der Bar hatte er schon ins Visier genommen. Sie würde er als Erste nach Selma fragen.
Ein Klingelton ertönte. Marieddas Hand fuhr in die Tasche.
Je länger sie zusammen waren und je länger Waller von zu Hause weg war, desto attraktiver erschien ihm die Polizistin in ihrer schicken Uniform. Sie war gut gebaut, ein üppiger Busen zeichnete sich unter der Jacke mit den Goldknöpfen ab, und ihr Hintern war so, wie er es mochte, mit der Silhouette einer Birne. Nicht mit der eines Apfels oder eines Pfirsichs. Länglich, geschwungen, etwas ausladend. Am liebsten hatte er es, wenn sie ihre Sonnenbrille vor den Augen trug anstatt im Haar so wie jetzt. Dann sah sie aus wie ein weiblicher Lieutenant aus der Serie »Die Straßen von San Francisco«, die er früher so gern gesehen hatte. Sie hatte was, diese Mariedda. Er musste aufpassen.
»Der Commissario«, sagte sie, nachdem sie telefoniert hatte. »Er hat ein Fax aus Deutschland erhalten. Von Ihrer Dienststelle. Im Anhang ist das Foto einer Tasche. Einer Handtasche mit blauen und roten Glasperlen. Sie könnte Selma gehört haben, und wir sollen das verifizieren.«
»Ja, die Tasche hat Selma Ruspanti gehört«, bestätigte Waller noch am selben Tag. Bisher hatte er seine Kontakte nach Deutschland, nach München und zu Ottakring absichtlich auf das Allernötigste beschränkt. Nun aber war er froh, einmal wieder Ottakrings sonore Stimme aus seinem vertrauten beruflichen Umfeld am Telefon zu haben.
»Der Ehemann war sich unsicher«, schilderte er. »Selma hat nur selten eine Handtasche getragen. Und ob es gerade diese war, die sie bei ihrem Verschwinden dabeihatte, darauf wollte er sich nicht festlegen.« Waller hielt kurz inne, weil er am anderen Ende nichts hörte. »Sind Sie noch dran, Herr Ottakring?«
»Ich höre. Reden Sie nur weiter.«
»Zu hundert Prozent bestätigen konnte es eine Freundin von ihr, die Inhaberin der Bar Grappa . Sie heißt Francesca, und sie hat die Tasche auf den Fotos sofort erkannt. ›Na klar‹, hat sie ausgerufen, ›so eine Tasche gibt’s in ganz Olbia nur einmal.‹ Sie war ganz hingerissen. Nachher hat sie geweint.«
Auch die Befragung in der Taverne in Bussolengo war ein voller Erfolg.
Die Kellnerin, die an Silvester Dienst gehabt hatte, hatte frei. Doch Mariedda schaffte es, sie zur Anhörung in die Taverne zu holen. Die Frau trug Jeans und eine rote Jacke aus Kunstleder. Obwohl sie verhärmt aussah, wirkte sie energisch und kraftvoll. Waller hatte diesmal keine sprachlichen Probleme, denn es stellte sich heraus, dass sie Deutsche war. Eine Norddeutsche.
»Ja, ich kann mich gut erinnern. Ich finde es seltsam, dass ich mich überhaupt erinnere. Hier gehen täglich tausend Menschen ein und aus. Doch diese Frau, die allein und mit vollem Gepäck in unser Fernfahrerlokal hereingeschneit kam, fiel mir gleich auf. Ich kann auch mit Sicherheit sagen, dass es am Silvesternachmittag war, denn im Fernseher über der Bar kam so eine Sendung, was
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