Jenseits der Alpen - Kriminalroman
ihm saß ein junges Mädchen mit vor Schreck geweiteten Augen und zusammengekniffenen Knien. Und die Messerspitze zeigte immer noch auf sie.
* * *
Roswitha hatte Angst. Schreckliche Angst. Die Situation, in der sie steckte, war unvorstellbar phantastisch und furchtbar. Unwirklich. Nie hätte sie daran gedacht, dass sie in etwas Derartiges hineingeraten könnte. Wie in einem dieser Horrorfilme, die sie nicht mochte. Sie wollte nur ins Kino gehen und wurde dann von den beiden Typen blöd angemacht. Sie war froh gewesen, eine Fluchtmöglichkeit zu finden und in dieses Auto zu springen.
Und nun saß sie mitten in der Nacht an einem abgelegenen Ort mit einem Mann in dessen Wagen, der mehr von ihr wollte, als sie nur ein bisschen zu küssen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, würde Mama sagen.
Wie gern hätte sie dagegen mit dem Flori etwas mehr gehabt als nur das bisschen Streicheln. Er hatte im Kino in der Reihe hinter ihr gesessen. Er war zu schüchtern, um sich neben sie zu setzen. Ein bisschen schüchtern ist ja gut, fand sie, aber beim Flori war das extrem. Sie hatte extra einen kurzen Rock angezogen, falls er sich doch neben sie setzen sollte. Sie wollte einmal erleben, wie es ist, da unten von einem Jungen berührt zu werden. Doch Flori würde sich das niemals trauen.
Seit sie den Flori liebte, hatte sich ihr Leben total verändert. Sie ging allein auf der Veranda umher, joggte allein durch den Wald, was sie vorher nie getan hatte, und kehrte durchnässt wieder heim. Plötzlich mochte sie es, mit Mama Backgammon zu spielen. Sie wusste, der Flori spielt Backgammon. Jeden Sieg widmete sie dem Flori.
Ihre Veränderung blieb nicht unbemerkt, auch wenn Mama den Grund nicht kannte. Mama hatte sie zwar deswegen angesprochen, doch Roswitha hatte nichts gesagt. Es sollte Floris und ihr Geheimnis bleiben. Auf ewig.
Nur ein einziges Mal hatte sie einen Mann umarmt. Ihren Klavierlehrer. Ihr Klavierlehrer war halb so alt wie Mama und sah geil aus. Irgendwann stand er vor ihr und strich ihr mit den Fingern über die Schultern. Da warf sie die Arme um ihn. Sie konnte seinen breiten Rücken spüren, seine Muskeln unter ihren Händen, sie konnte seinen heißen Atem spüren. Roswitha hatte keine Angst vor ihm, doch sie spürte damals auch noch nicht das hitzige Begehren, das sie heute spürte. Sie war seither zwei, drei Jahre älter geworden. Was sie in der Situation mit dem Klavierlehrer empfunden hatte, war ein zartes Dahinschmelzen, ein Versinken in einen anderen Menschen, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Damals hatte sie die flachen Hände erhoben und sie gegen die Brust des Klavierlehrers gepresst.
Und nun saß sie in ihrem Rock neben einem wildfremden Mann, dem sie ihren Namen nicht nennen wollte, weil sie ihren Namen hasste. Roswitha! Wer hieß schon so?
Sie sah ihm zu, wie er sich zurücklehnte und die Knöpfe an seinem Hosenschlitz aufmachte. Sie presste ihre nackten Knie zusammen. Sie lagen dicht beieinander. Mit einem Ruck und der gesamten Kraft ihrer schwachen Arme stieß sie ihn zurück. »Neiiiiin!«, schrie sie, so laut sie konnte, als sie ihre Arme von seinem Rücken löste und die Hand zum offenen Messer zwischen ihnen fuhr.
Es waren Sekunden, die über Leben und Tod entschieden. Ein leichtes Spiel mit ihr sollte der Typ nicht haben.
»Mamaaa!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. Ja, sie musste an ihre Mama denken. Sie ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Sie wusste, wann das Kino aus war, sie würde sich Sorgen machen.
Der Mann war feuerrot im Gesicht geworden, als sie die Klinge wendete und zustieß. Er fing die Klinge mit beiden Händen ab und entwand ihr die Waffe. Unendliche Verwunderung zeichnete sich in seinen Augen ab. Er bebte vor Zorn und zitterte vor Schmerz, als er auf seine zerschnittenen, blutigen Hände sah.
Langsam, übertrieben langsam, wendete er sich Roswitha zu, deren Namen er noch vorhin gern gekannt hätte. Jetzt nicht mehr.
Er legte seine blutenden Hände um ihren Hals.
Es gab ein gurgelndes Geräusch.
* * *
Draußen war es kühl. In einer der zahlreichen Bäckereifilialen trank der Kriminalrat zwei Tassen Kaffee und aß ein Croissant. Er bezahlte mit einem Fünfziger, nahm das Wechselgeld und eilte zurück zur Wohnung und zum Stellplatz. Er ließ den Porsche gemächlich südwärts surren. Zu dieser Zeit in dieser Richtung war kaum Verkehr, weshalb er nur vierzig Minuten bis Wörgl benötigte.
Diesmal nahm er die Ausfahrt Wörgl-West. Vor der
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