Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits der Alpen - Kriminalroman

Jenseits der Alpen - Kriminalroman

Titel: Jenseits der Alpen - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
Vom Netzwerk:
schlug ihr mit dem Handrücken quer übers Gesicht. Sie schrie auf und duckte sich weg.
    »Sie haben ja recht«, sagte sie Sekunden später mit erstickter Stimme. »Ich hab Ihnen auch wehgetan.«
    Was tun? Die Geschichte der Kleinen beeindruckte ihn. Sie hatte eine besondere Art, um ihr Leben zu bitten, ohne zu betteln. Bei den anderen hatte er keinerlei Skrupel gehabt, sie zu töten. Er hatte seinen Spaß mit ihnen haben wollten, und sie hatten ihn wütend gemacht. Doch in diesem Fall …
    Ein kurzer Film lief vor seinen Augen ab. Sie lag platt auf dem Rücken, nackt, notdürftig eingewickelt in eine Art Laken. Der zerschmetterte Kopf ruhte auf einem feuchten Stück Lehm. Rote Zehennägel schauten unter dem Laken hervor. Beinahe surrealistisch. Frisch rieselnde Schneeflocken begannen das Mädchen zu bedecken, als wolle der Himmel sich für sie schämen.
    RoLa-Terminal in Wörgl, die Italienerin, der Schnee, der Schmerz. Wörter und Bilder stellten sich ein. Der vergebliche Versuch, die Wirklichkeit zu verbergen.
    Dann wieder sah er die kleine Clara weglaufen, über das Feld im Dunkel. Bald würde die Polizei Bescheid wissen, dass er sie entführt und beinahe vergewaltigt hatte. Gegen ihren Willen festgehalten. Hatte er Spuren hinterlassen?
    »Und wie lange wird deine Schwester noch leben?«, fragte er. Er klang beinahe besorgt. Die grauen Schatten vor seinen Augen hatte er weggewischt. »Weiß man das?«
    Die Autotüren hatte er schon lange verriegelt. Auch das blutverschmierte Messer hatte er vom Boden aufgehoben. Jetzt hielt er es drohend in der Hand, die Spitze der Klinge auf sie gerichtet.
    Das Mädchen schluckte. »Ich glaube nicht, dass sie sterben wird«, sagte er. »Ich sei ein Segen für sie, sagen die Ärzte.« Sie fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Dann strich sie das Haar zurück, lachte ihn an. »Das haben sie wirklich zu mir gesagt. Ich sei ein Segen, und wenn ich nicht wäre, müsste meine Schwester sterben.«
    Thorsten Gollek befand sich in einem Zwiespalt, den er so noch nie kennengelernt hatte. Er wollte dieses Mädchen in Ruhe lassen. Doch das würde ihn todsicher den Kopf kosten. Fingerabdrücke überall. Und diese andere Methode, von der er gelesen hatte – DBA oder so.
    Sollte er sie erstechen? Dazu müsste er sie aufs freie Feld schaffen. Er würde sie mit spielerischer Leichtigkeit erwürgen können – den Beginn hatte er bereits gemacht. Doch etwas in ihm sträubte sich vehement dagegen.
    Das Bild der ermordeten Clara, eines zwölfjährigen Kindes, nahm immer schärfere Konturen an.
    »Wie heißt denn deine Schwester?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen.
    Clara hatte sich kerzengerade hingesetzt und sah durch die Windschutzscheibe nach vorn ins finstere Nichts. Ihr Rücken bildete eine Parallele zur Lehne des Autositzes. Ohne jede Bewegung. Während Gollek ihr die Frage stellte, musterte er ihren Gesichtsausdruck. Er war frei von Angst, fast unbekümmert. Karl, sein eigener Sohn, zeigte den gleichen Ausdruck wie sie, wenn sie sich während eines Heimataufenthalts intensiv unterhielten.
    Ein tiefer Seufzer kam aus seiner Brust. Karl und diese Clara, sie könnten Freunde sein. Sie hatte ein lebendiges, lachendes Gesicht mit funkelnden Augen. Er wollte sie am Leben lassen. Er überlegte kurz. Es war höchste Zeit!
    Der Inndamm war nicht weit und dicht bewachsen. Mit dem Abschleppseil fesselte er das Kind. Mit einer Kleberolle aus dem Erste-Hilfe-Kit brachte er es zum Schweigen. Dann schleppte er die Kleine aus dem Auto und legte sie auf den Boden. Er suchte nach einem Stein, der groß genug war, um ihr das Gedächtnis zu rauben. Er fand diesen Stein und kehrte zu dem vermummten Körper zurück. Er kniete sich neben sie und hob den Stein.
    Ihre Augen folgten der Bewegung. Sie waren geweitet vor Todesangst. Er ließ den Stein herniedersausen und ergötzte sich an ihrer Überraschung, als er den Schwung ausnutzte und den Stein in hohem Bogen wegschleuderte.
    »Mach’s gut«, sagte er leise. »Und pass auf deine Schwester auf.« Er erhob sich und ging in kurzen, schnellen Schritten zurück zum Auto.
    Den Hubschrauber, der die Nachtruhe störte, hörte er, bevor er die Autotür zuschlug und den Motor startete. Zwei Suchscheinwerfer des Helikopters spalteten wenig später die Dunkelheit. Doch da hatte sich Thorsten Gollek bereits wieder in den spärlichen nächtlichen Straßenverkehr eingeordnet.

Rosenheim, Samstag, 15.   April 2000
    Am folgenden Morgen um Viertel nach acht war die

Weitere Kostenlose Bücher