Jenseits der Alpen - Kriminalroman
Nüstern. Reizvoll anzuschauen.
Links am Fuß des halbhohen Damms sah er eine Parkbucht. In diese fuhr er hinein. Er ließ den Motor laufen, schaltete das Licht aus und beugte sich zu ihr. Sie zitterte und zuckte, als er den Winkel ihrer geöffneten Lippen und ihr heißes Ohrläppchen küsste. Dann bäumte sie sich auf.
»Hören Sie auf! Ich will sofort zu meinen Eltern. Ich ruf meine Eltern an, wenn Sie nicht …« Mit einem schnellen Griff fingerte sie ihr Handy aus der Tasche ihrer Jacke.
Ebenso rasch hatte er es ihr entwunden. Ein entsetzter Blick, sie riss den Mund auf und fing an zu schreien. Sie hatte ebenmäßige Zähne.
Gollek ließ den Blick schweifen. Niemand weit und breit zu sehen in der Dunkelheit, der Motor übertönte ihr Schreien. Er sah keine Gefahr. Trotzdem langte er zu und gab ihr mit der flachen Hand eine gewaltige Ohrfeige.
Augenblicklich verstummte sie. Doch nur für eine Sekunde. Dann fuhren beide Hände zum Gesicht, und sie fing an zu wimmern. »Mama, Mama«, winselte sie.
Gollek genoss den Augenblick. Keinesfalls aber durfte er die Vorsicht außer Acht lassen.
»Schweig!«, befahl er. Er drückte die Türverriegelung und griff an der Kleinen vorbei ins Handschuhfach. Er entnahm ihm ein Messer, klappte es auf und legte es auf die Ablage zwischen den Sitzen. Die Spitze der Klinge deutete auf das Knie des Mädchens.
Kurz darauf setzte er den Wagen zurück, legte den Vorwärtsgang ein und fuhr fünfzig, sechzig Meter weiter. Dort zweigte ein Feldweg ab, der über Wiesen direkt zum Inn führte. Diesen Weg nahm er. Unter einer Baumgruppe wendete er so, dass die Fahrzeugnase in die Gegenrichtung stand, und schaltete Licht und Motor ab. Sollte jemand kommen, würde er das, was in diesem Auto geschah, für die Spiele eines Liebespaars halten.
Die Messerspitze zeigte weiter auf das Mädchen. Ihren Namen kannte er noch immer nicht. Doch das würde sich in den nächsten Minuten ändern.
Die Kleine neben ihm heulte still vor sich hin. Ihr zarter Körper wurde von tiefen Schluchzern aufgewühlt.
Für einen Augenblick horchte er in sich hinein. Hatte er Mitleid? Er musste an Helen denken. An Karl, der etwas jünger war als das Mädchen neben ihm. An seine Schwestern, die ihn wegen seiner Pusteln im Gesicht hänselten. Musste er deshalb Mitleid haben mit diesem Geschöpf? Mit diesem weiblichen Balg und seiner nervtötenden Kaugummikauerei? Nein, Mitleid brauchte er mit ihr nicht zu haben. Und wozu Rechtfertigungsversuche?
Er holte sein Handy heraus. »Ich hab noch zwei Kumpels getroffen«, sagte er zu Helen. »Wir gehen in ein Wirtshaus. Es kann später werden.«
Wenige Augenblicke später stellte er mit Erstaunen fest, dass er während des Telefonats zärtlich über den Kopf des Mädchens gestrichen hatte.
Als Gollek das Mädchen berührte, musste er an früher denken.
Helen stammt aus Roth, einer Kleinstadt in Mittelfranken. Ihr Vater ist Schlosser, die Mutter Hausfrau, und da sind noch ein Bruder und eine Schwester.
Helen und er lernen sich in jungen Jahren kennen. Er selbst kommt aus dem Alten Land südlich von Hamburg und ist Kfz-Mechaniker. Sie lieben sich und heiraten bald. Zwei Jahre später, als ihr einziger Sohn Karl zur Welt kommt, überrascht er seine Frau mit einem Berufswechsel. Er wird Fernfahrer und ist ab sofort sehr viel unterwegs.
Sie vereinbaren, dass Helen keine Arbeit annimmt, solange der kleine Karl noch nicht flügge ist. Das ist sein ausdrücklicher Wunsch gewesen. Soweit er weiß, vertreibt Helen sich die Zeit, indem sie Karl intensiv betreut, Hausarbeiten macht, kocht und backt. Und sie liest sehr viel. In der Welt der Romane, egal ob in Buch- oder Heftform, geht sie auf. »Manchmal wünsche ich mir so zu sein wie die Figuren im Roman«, hat sie einmal zu ihm gesagt. »Vor allem wie Francesca und Robert aus Die Brücken am Fluss .« Er kann damit nichts anfangen. Er kennt nur die Hefte und Videos, die man an Autohöfen und Raststätten kaufen kann.
Helens Welt ist heil.
Er ist sich ihrer sicher. Dass er eine andere Frau anschauen, Angebote fremder Frauen annehmen oder gar fremdgehen könnte, hält sie für ausgeschlossen. Denkt er. Sie vertraut ihrem Mann blind. Denkt er. Der Karl gedeiht prima unter ihrer Obhut, und sie haben sich riesig gefreut, als Gollek ihnen den zugelaufenen Hund von seiner Fahrt nach Süden mitbrachte. Giorgio. Helen lebte nun tagtäglich für zwei Lebewesen. Für Karl und für Giorgio.
Thorsten Gollek schüttelte die Gedanken ab. Bei
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