Jenseits der Alpen - Kriminalroman
muss noch einmal hin«, sagte er in der nächtlichen Stille des Büros laut zu sich.
Die Schublade, aus der er die Fotos gezogen hatte, stand noch offen. Aus einer Plastikhülle schimmerte ihm die Phantomzeichnung des Mannes entgegen, von dem Waller und Agnes hofften, dass er der Täter sei. Die Zeichnung, die ihn heute erreicht hatte, war zu einem Werk herangewachsen, das man mit einer Fotografie verwechseln konnte. Ottakring segnete im Geist die Questura in Genua, steckte die selbst gemachten Fotos zu dem Phantombild in die Folie, löschte das Licht und entfernte sich mit einem freundlichen Gruß an den Pförtner aus dem Haus.
Bald sollte er begreifen, welche Bedeutung und wie viel Gewicht seine Beobachtung hatte. In seinem Kopf bestand nicht mehr der geringste Zweifel, dass ein Zusammenhang zwischen dem Mann auf der Zeichnung, dem Lkw-Parkplatz und den drei Morden existierte. Und da war noch etwas anderes. Das wollte er herausfinden. Sofort.
* * *
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Gollek, als sie den Parkplatz verlassen hatten und er den blauen Ford in die Kufsteiner Straße lenkte. Die Ampel stand auf Rot.
Die Kleine warf ihm einen Blick zu, der sein Blut in Wallung brachte. Wer hatte ihr das beigebracht?
»Wohin fahren wir?«, fragte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. »Meine Eltern wohnen in Schloßberg. In der Schillerstraße.«
»Wissen deine Eltern denn, wo du bist?«, stellte er lauernd die Gegenfrage. Er überlegte, wo er mit ihr hinfahren könnte, ohne dass es gleich auffiel. Richtung Schloßberg wäre wohl die beste Lösung. Er kannte die Gegend ganz gut. Die Hofau war um diese Zeit menschenleer. Da war der Inn, umsäumt von Wiesen und Baumgruppen, dazwischen Parkbuchten. Das könnte passen.
Sein Blick streifte das Mädchen zum wiederholten Mal. Sie hatte ein kindliches Gesicht mit einer niedlichen Stupsnase und leuchtend blauen Augen, die Haare mit einer goldenen Spange zurückgesteckt. Ihr Oberteil wurde von schwellenden Brüsten gedehnt. Die ärmellose Jacke konnte das nicht verbergen. Sie hatte sich etwas geschminkt, die Fingernägel waren nicht lackiert. Ein entzückendes Kind, eine angehende Frau, zum Anbeißen sexy. Das Kind trug einen Rock, was die Frau in ihr noch reizvoller zur Geltung brachte. Das, was er sich von Helen immer wünschte, aber nicht bekam, würde er sich von ihr holen. Er spürte ein rasendes Verlangen.
Auf seine Frage hin sah sie ihn direkt an. »Freilich wissen meine Eltern, wo ich bin.«
»Und wie wärst du nach Hause gekommen? Nach Schloßberg kommst du nicht einfach zu Fuß. Es wäre zu weit.«
»Weiß auch nicht«, sagte sie mit süßer Piepsstimme. »Irgendwer hätte mich schon hingebracht. Aber jetzt bringen Sie mich ja heim.«
Er ergötzte sich an ihrer Unbekümmertheit. Dieses dicht bewimperte Wesen bewegte sich und redete mit einer koboldhaften Grazie, ein heimtückischer Zauber ging von ihm aus. Er hätte gern gewusst, ob die so unschuldig war, wie sie tat.
Er würde es herausfinden.
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du heißt«, sagte Gollek.
Alles an dem Mädchen war schmal. Das Gesicht, ihre Hände mit den Fingern, die Schultern, bestimmt auch ihr Hinterteil. Ein Schauer der Lust durchfuhr ihn. Er selbst bildete sich ein, alle Merkmale zu besitzen, auf die kleine Mädchen fliegen mussten: scharf abgesetzte Kiefer, muskulöse Arme und Hände, eine tiefe, klangvolle Stimme, breite Schultern. Wenn sie das erst einmal erkannte, müsste er vielleicht keine Gewalt anwenden. Aber wollte er das?
Er wollte sich an ihrer Angst berauschen. Ihre flehenden Augen, die zitternden Lippen. Sie näherten sich bereits der Innbrücke, und sie hatte ihren Namen immer noch nicht genannt. Das gefiel ihm nicht.
Die leicht angehobenen Schulterblätter ließen einen hauchzarten Flaum entlang des Rückgrats erkennen. Er konnte die Wölbung ihres blau bekleideten Pos ahnen, und er sah deutlich den Glanz ihrer schmalen Schulmädchenschenkel. Ein Haufen Sterne glühte zwischen den Silhouetten der frühlingskahlen Bäume, als er hinter der Brücke nach links in die Hofau einbog. Er wusste, dass sich gleich nach der Kurve auf der rechten Seite versteckt hinter Bäumen eine Straße mit Siedlungshäusern verbarg.
»Deinen Namen, verdammt!«
Sie schrak zusammen. »Wo fahren Sie hin?«, rief sie aus. »Wo bringen Sie mich hin?« Jetzt bearbeitete sie energisch einen Kaugummi. Wo hatte sie ihn plötzlich her?
Funkelnde Augen, bonbonrote Lippen, geblähte
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